Der berühmte »Pont du Gard«, dieses technische Meisterwerk der Antike, zwischen Nîmes und Avignon, lässt mir keine Ruhe. In unserer Kolumne vom Dezember letzten Jahres (MMXV) habe ich schon darüber berichtet. Dort äusserte ich die Annahme, dass die alten Römer für den Bau ihrer Werke das dezimale Zahlensystem gekannt und verwendet haben müssen. In den letzten Monaten sind mir einige Artikel in die Hände gekommen, die mir ein völlig anderes Bild der römischen Baupraxis geben. Diese belegen, dass meine Annahme falsch war.
Im Altertum waren die Griechen die besseren Mathematiker, die besseren Theoretiker. Die Römer dagegen waren die Praktiker, die Anwender bekannter Techniken. Sie realisierten, was andere erdacht hatten. Da sind wir wieder beim »Pont du Gard« der, von Römern gebaut, heute, 2000 Jahre später, immer noch steht. Er ist das Beweisstück der römischen Ingenieurkunst. Die Römer waren vielleicht nicht die besten Erfinder, ganz sicher aber die allerbesten Ingenieure.
Wenn andere Völker eine Technik entdeckten, die ihnen nützlich erschien, brachten die Römer die Idee zur Vollendung, zur Perfektion. Ein solches System in seiner Vollkommenheit ist die Wasserversorgung der Städte und Siedlungen im römischen Reich. Allen voran das Trinkwasserversorgungssystem der Stadt Rom. Die Wasserversorgung ist ein typischer Bestandteil der römischen Kultur. Trier, Mainz, Lyon, Nîmes, Köln, Xanten, Taragona oder Segovia wurden zur Römerzeit über Aquädukte mit Trinkwasser versorgt.
Die dazu nötigen Fernwasserleitungen konnten bis zu 100 Kilometer lang sein. Wie dies mit der Eifelwasserleitung für die Stadt Köln damals der Fall war.
Der Trinkwasserverbrauch der Metropole Rom war gigantisch. Der ProKopf-Verbrauch stieg bis auf 400 Liter pro Tag. Erstaunlich viel! Das ist doppelt so viel wie der durchschnittliche Verbrauch im Europa von heute. Das bedeutet, dass die Fernleitungen täglich 400 Millionen Liter Wasser nach Rom liefern mussten! Rom wurde zur Zeit von Christi Geburt über neun Aquädukte mit Wasser bedient. Die Länge der Wasserleitungen schwankte zwischen 16 und 90 Kilometer.
Wie wurden diese Kunstwerke des Tiefbaus in der Antike realisiert? Und meine grosse Frage: »Kamen die Baumeister ohne Kenntnisse des Zehnersystems aus?« Wie überbrückten sie Berge, Täler und andere Geländehindernisse? Dies geschah, typisch für Rom, Schritt für Schritt mit sehr viel Personal und sehr praxisnah.
Aqua Marcia war die längste Wasserleitung. Sie wurde 140 v. Chr. vollendet. Die Bauzeit betrug vier Jahre. Sie hatte eine Länge von 91 Kilometer. Der Höhenunterschied von Anfang bis Ende betrug bloss 260 Höhenmeter. Was eine durchschnittliche Neigung von nur drei Promille entspricht. Die Quelle lag im Aniental. In der Nähe der heutigen Stazione Termini erreichte sie Rom, von wo aus die Feinverteilung in die Quartiere startete.
Betrachten wir den Bau dieser Leitung etwas genauer. Zuerst ging es darum eine Quelle zu finden, die in genügender Menge sauberes Trinkwasser lieferte. Dann kümmerten sich die Ingenieure um den genauen Ausgangspunkt und dem genauen Endpunkt der Leitung. Entscheidend beim Wassertransport ist die Schwerkraft. Die Aquädukte müssen ein stetes, gleichmässiges Gefälle haben, damit das Wasser ihr Ziel, die Metropole, erreicht. Das Geniale: Die Neigung und der Weg der Leitung wurde weder berechnet noch vermessen. Sie wurde Stück um Stück, Schritt für Schritt mit Profilstangen aus Holz verpflockt. Für alle Aquädukte, so auch für Marcia, konstruierten die Praktiker eine Lehre, welche genau die Neigung von drei Promille hatte. Dieses Vermessungsinstrument heisst Chorobat. Es handelt sich um einen 20 Fuss (6 Meter) langen Holzbalken mit an den Enden zwei rechtwinklig angebrachten Stützen. Diese Beine waren ungleich lang. Dieser Längenunterschied der Beine gab, wenn der Balken genau in der Waagrechte lag, die präzise Kote für die notwendige Neigung der Wasserleitung. Das kürzere Bein wurde bergwärts auf den Boden gestellt. Der Balken wurde mittels Senkblei und Wasserwaage genau horizontiert. Das zweite Bein ergab die Neigungskote. So wurde schrittweise, sechs Meter um sechs Meter, der Weg der Fernleitung verpflockt.
Die Wasserwaage war eine in der Mitte des Balkens eingebauten Rille, welche mit Wasser gefüllt wurde. War sie völlig gefüllt und gingen keine Tropfen daneben, befand sich der Balken in der Horizontale. War der Weg ausgesteckt, konnte mit dem Bau begonnen werden.
Die Leitung wurde grösstenteils unterirdisch geführt. Grössere Hügel wurden durch Tunnels überbrückt. Bei Tälern wurde dem Wasser oberirdisch mit Bauwerken, Aquädukten, ein Übergang geschaffen. So floss das Wasser unterirdisch in Druckleitungen aus imprägniertem Holz und über der Erde auf Aquädukten zum Ziel. Hunderte von Arbeitern, meistens Sklaven, gruben mit Pickel und Schaufel die Gräben und Tunnels. Oder sie bauten aus Steinquadern Aquädukte wie der »Pont du Gard«. Wie müssen sich die Ingenieure gefühlt haben, als das erste Wasser in Rom ankam! Vier Jahre harter Arbeit zeigten ihren Lohn.
Während dem Bau der Aqua Marcia wurden zwar von der Bauleitung Notizen gemacht. Komplizierte Berechnungen, wie wir sie heute bei der Landvermessung benutzen, kamen nicht zur Anwendung. Auf der Baustelle waren keine Rechenkünste gefragt. Schon gar nicht mit dem Dezimalsystem. Industriebauten wurden praktisch, vor Ort, handfest, Stück um Stück vorangetrieben. Mathematik wurde nicht zu Hilfe genommen.
Es sind die Triumphe auf dem Schlachtfeld, die Roms Aufstieg vorantrieben. Aber erst die Fernwasserleitungen ermöglichen es der Stadt, stets gross zu bleiben, um Kriege und Machtwechsel zu überstehen. So wird die Wasserversorgung zum wichtigsten Faktor für Roms einzigartigen Erfolg.
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