Als Frau Adele Escher, geborene Bodmer, um die Kreditanstalt aus der Bahnhofstrasse um die Ecke stiefelte, fuhr das Rösslitram nach Tiefenbrunnen ab. Was sie jetzt bräuchte, wäre eine Tramverbindung zur Talstation der Seilbahn Rigiblick. Leider gab es die nicht.
Adele war mit dem linken Bein aufgestanden. Es war heute nicht ihr Tag. Ihre Kammerzofe lag mit Fieber im Bett. Die eigene Kutsche hatte ihr Gatte früh morgens anspannen lassen. Eigentlich benutzte Dr. Andreas Escher, Verwaltungsratspräsident der Bank Sparhafen, die Diligence des Morgens kaum. Ausgerechnet heute war er damit unterwegs nach Wollishofen. Es war Adele Escher somit dieser Tage nichts anderes übriggeblieben, als anstelle mit der Magd allein einzukaufen. Mit einem Seufzer nahm sie den vollen Weidenkorb, der sich durchbeugte und knarrte, wieder auf und bestieg eine freistehende Pferdedroschke. Die Fahrt durch die Stadt hinauf auf den Zürichberg zur Hadlaubstrasse trug nicht dazu bei, ihre üble Laune zu verbessern. So kam sie mürrisch gelaunt bei ihrer Villa an. Die Kutsche hatte den Rückweg schon angetreten, als sich wie von selbst die Türe des Lieferanteneingangs öffnete und Ludgianna, die Köchin, ihr entgegeneilte. Sofort merkte sie, dass die Herrin übelster Laune war. Ein kurzer Gruss, schon war sie mit den Lebensmitteln unterwegs in die Küche.
Nicht alle Haushalte im Zürich des Historismus leisteten sich eine Köchin. Beim Durchschnitt war es die Ehefrau und Mutter, welche die Kelle schwang. Die meisten von ihnen hatten den Ruf, gute Köchinnen zu sein. Feines Essen war die Waffe, um die Vorherrschaft im Hause nicht zu verlieren. Es war die Zeit, da die Parole galt: »Die Liebe geht durch den Magen!« In allen bürgerlichen Hausständen hatten die Frauen den Ehrgeiz, täglich eine gelungene Speisenfolge für den ganzen Haushalt auf den Tisch zu zaubern.
Das Wissen dazu wurde von Generation zu Generation über die weibliche Linie weitergegeben. Es gehörte zum Stolz der Mütter und der Töchter, in regelmässiger Folge die seit Menschengedenken in der Familientradition gehüteten Geheimrezepte in der Küche zu verwirklichen. Kochbücher gab es damals kaum.
Die Kochkunst war ein familieneigenes Kunstwerk. Dieses wurde seit Jahrhunderten weiterentwickelt. Das künstlerische Schaffen in der Küche gehörte zum guten Ruf. Dieser musste bei jeder sich gebenden Gelegenheit für Bewunderung der Gäste sorgen. Das Gütesiegel einer jeden Familie war «vortrefflich kochen können».
Jede Kochkünstlerin hatte ihre Kenntnisse, ihre Tricks und ihr Wissen im Kopf. Es kam selten vor, einmal ein Rezept für eine besonders raffinierte Sauce in einem Schulheft, welches in der Schublade des Küchentisches aufbewahrt wurde, festzuhalten. Für das gekonnte Kochen brauchte es Feingefühl. Auf das abgestimmte Abschmecken kam es an. Übung, Wissen, Fähigkeiten und Erfahrung bildeten das Fundament. Je älter die Frau, umso besser die Küche. Unschlagbar waren Speisen aus Grossmutters Küche.
Nur die Elite der Stadtbewohner hatte eine Köchin. Diese herrschte in ihrem Reich, in der Kochstube. Von der Herrschaft hatte dort niemand etwas zu suchen. Mit dem Erfolg, dass die höheren Töchter keine Ahnung hatten, wie man Spiegeleier buk. Die Überlieferung der Rezepte ging damit von selbst verloren.
Elisabeth Fülscher, die Tochter eines aus Hamburg eingewanderten Ingenieurs, lag das Kochen im Blut. Schon als Teenager hatte sie in der siebenköpfigen Familie Eltern und Geschwister mit exquisiten Mahlzeiten überrascht. Sie perfektionierte ihr Kochwissen und wurde in der ersten Zürcher Privatkochschule von Anna Widmer Hauswirtschaftslehrerin. Hier erkannte Elisabeth Fülscher eine Marktlücke. Sie übernahm die Kochschule und bildete dort den weiblichen Nachwuchs der oberen Tausend aus. Die höheren Töchter wurden bei ihr in nahezu wissenschaftlicher Weise in die Kunst, den Zukünftigen zu verwöhnen, eingeführt. Damit die Mädchen nach bestandener Absolvierung nicht alles Wissen in den Wind schlugen, erfand Frau Fülscher DAS KOCHBUCH schlechthin. Der »Fülscher« wurde zum Standardwerk der modernen Küche für jedermann und jedefrau. Dieses Werk kam 1928 heraus und hielt mit knapp1’800 Rezepten das ganze Wissen der Kochkunst fest. Es war nicht nur eine Wegleitung für den Küchendienst. Es war die historische Edition des mündlich überlieferten, familiären Kochwissens. Ein Meilenstein in der Entwicklungsgeschichte der Kochkunst.
Mit der Zeit veränderte sich die Struktur der Familie. Vorbei die Epoche, wo die Frau das Feuer hütete und der Mann auf die Jagd ging. Die drei Töchter bei Eschers hatten klare Vorstellungen, ihr Leben zu gestalten. Alle drei hatten einen Beruf. Für viele Bürger kam das nahe an den Skandal heran. Eine Frau, die Geld verdienen geht. So etwas tut man doch nicht!
Bei Eschers ging dieses Erdbeben der Veränderungen nicht ohne Zerwürfnisse und heftige Diskussionen über die Bühne. Mutter Adele hatte alle Hebel in Bewegung gesetzt, diesem ungebührlichen Bestreben der Neuzeit, wie sie es nannte, Hindernisse in den Weg zu legen. Über eine längere Zeitperiode war der harmonische Fluss des Familienlebens einem reissenden Wildbach der Emotionen gewichen. Es flogen die Fetzen! Alle Register wurden gezogen. Die Tradition der Vorfahren. Der Einsatz von Verwandten und Bekannten als «unabhängige Berater». Ein Austauschaufenthalt im Welschland. Kopplungsversuche an den Bällen vor dem Sächsilüte. Es war eine Zeit der grossen Belastung der oberen Tausend, nicht nur für die Eschers. Die ganze «gute Gesellschaft» erlitt eine Revolution. Die Moderne eroberte die Oberhand. Die Töchter errangen den Sieg. Diese furchtbare Emanzipation, Adele fand keine bessere Bezeichnung, liess sich nicht aufhalten. Die Jungen gingen ihren Weg in die Moderne.
Annabella war Architektin und hatte einen Pestalozzi geheiratet, der war Chemiker. Er war in seinen Beruf verliebt. Dr. Emil Pestalozzi war Oberassistent bei Professor Paul Karrer an der Universität. Er hatte ein eigenes Labor mit Doktoranden und Laboranten. Ein aufs modernste eingerichteter Arbeitsraum. Überall köchelten gläserne Versuchsapparaturen vor sich hin. Emil arbeitete an seiner Habilitation. Er war einer der begabtesten Exponenten der präparativen organischen Chemie. Das Institut war sein Zuhause. An seinem Schreibtisch sitzend, hatte er eben die letzten Eintragungen in sein Laborjournal geschrieben. Jetzt war die Kaffeepause fällig.
„Eigentlich“, so sinnierte er, „besteht zwischen der Chemie und der bürgerlichen Küche kein prinzipieller Unterschied. Ein gradueller aber schon. Zu viel Salz in der Suppe, und sie ist ungeniessbar. In den Abguss damit. Liegt bei uns ein unreiner Stoff vor, so genügt eine sorgfältige Destillation, um den Schaden zu beheben. – So einfach ist es jedoch auch wieder nicht. Für beide Tätigkeiten braucht es Wissen und Übung. Komplizierte Moleküle zu synthetisieren ist ein Kunststück. Ab und zu gar eine Glanzleistung. In der Küche Bewunderung mit einer meisterhaft zubereiteten Speise zu erreichen, ist eine Kunst. Es entsteht ein Kunstwerk. Ein Kunstwerk wird aus der Küche auf den Esstisch aufgetragen. Auch wenn in der Küche gewisse chemische Vorgänge nötig sind, braucht es dort vor allem Intuition und Vorstellungsvermögen. Das macht das Kunstwerk aus!»
An den Wochenenden zu Hause hatte Emil das Kochen im Griff. Sein „Boeuf Stroganoff“ erfuhr von seinen Lieben grosses Lob. Die Kocherei im Laboratorium war ein Kunststück. Den Sonntagsbraten auf den Tisch zu bringen, war für Pestalozzi ein Kunstwerk.
Pestalozzi hat es nicht mehr erlebt. Die Arbeiten im Labor und jene in der Küche begannen sich mit der Zeit anzugleichen. Sowohl der Koch wie der Laborant stellten alle notwendigen Substanzen bereit, studierten das Fertigungsverfahren. In der Küche entsprach es der Mise-en-place. Im Labor standen die Ausgangschemikalien in Reih und Glied. Die Verfahrensvorschriften, so nennen die Chemiker ihre Rezepte, lagen bereit. Wenn alles vorbereitet und der Herstellungsvorgang verstanden war, ging an beiden Orten die Kocherei los.
Die Gesellschaft erfuhr eine Modernisierung. Der konservativen Vergangenheit wurde der Rücken gekehrt. Mit der Zeit verlor sich das Fachwissen, wie die Familienrezepte zu bereiten sind, mehr und mehr. Der «Fülscher» hatte eine neue Epoche eingeläutet.
Jede Zeitung, jede Zeitschrift, die etwas auf sich gibt, führt eine Kochrubrik. Publiziert regelmässig neue, zum Teil bizarre Rezepte. Betty Bossi erblickt das Licht der Welt. Fachzeitschriften der Gastronomie kommen auf. In den Buchläden gibt es meterlange Regale mit Kochbüchern aus aller Herren Länder. Die Flut der Publikationen steigt tsunamiartig an. Das traditionelle Wissen der kochenden Grossmütter ist nur noch Geschichte. Ähnlich ist in den Laboratorien die Erfahrung der Alchemisten modernen Kenntnissen gewichen.
Im Labor wie in der Küche wird strenggläubig und präzis nach Vorschrift, nach «Fülscher», gekocht. Für die Chemie ist das so in Ordnung. Es ist ein Kunststück, ein neues Molekül zu schaffen.
Um das Kunstwerk in der Gastronomie, in der Speisefolge zur wahren Grösse zu bringen, braucht es mehr. Es braucht „das gewisse Etwas“, das «feine Gespür». Nennen wir es Einfühlungsvermögen. Das wurde einst von der Grossmutter auf die Mutter, von der Mutter auf die Tochter weitergegeben. Diese Wissenskette hat sich aufgelöst. Wenn man den Arbeiten der Hausköchinnen und der Laboranten an ihrem Arbeitsplatz zuschaut , stellt man kaum einen Unterschied fest. Beide starren versklavt auf die Rezepte.
Fünf Minuten anbraten sind heute genau fünf Minuten. Früher gaben der Geruch, das Aussehen und eine kleine Kostprobe darüber Auskunft, wann die Sauce perfekt war. Die Arbeiten der Laboranten und jene der Köche haben sich durch standardisierte Herstellungsverfahren in ein Korsett gezwungen, an das man sich zu halten hat.
Das Kunstwerk der Kochkunst ist zum Kunststück verkommen.
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