Jetzt, in der Zeit des Chaos, welches bei der Wahl des amerikanischen Präsidenten entstanden ist, kommt mir der Zeitraum in den Sinn, in dem ich in Amerika geschäftlich zu tun hatte. In Charlotte North Carolina lernte ich Bob Reeve kennen. Er war ein Star der Entwicklungsabteilung. Er verstand etwas von Elektronik. Das war in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Internet und Smartphone waren noch in weiter Ferne. Bob konnte Leiterplatten entwickeln. Für uns war er ein Genie. Beim Mittagessen kritzelte er ein Schaltschema auf eine Papierserviette. Später im Labor lötete er ein paar Bauteile, Transistoren, Kondensatoren und Widerstände auf eine Platine – printed circuit board, wie er sie nannte – und fertig war die Schaltung. Und es funktionierte! Die kontaktlosen Schaltungen und die elektronische Mess- und Regeltechnik waren gerade den Kinderschuhen entwachsen. Unsere amerikanischen Kollegen in Charlotte beherrschten die Elektrotechnik besser als wir in der Schweiz. Bob Reeve war der Beste. Wir lernten viel von ihm. Ein reger Gedankenaustausch baute sich auf. Regelmässig besuchte er uns in der Schweiz. Umgekehrt waren wir auch oft bei ihm in Amerika.
Bob war besonders stolz auf seine Stadt. Er kannte die 350 Jahre alte Geschichte seiner Heimat. Damit konnte er uns nicht beeindrucken. Haben unsere Städte doch mindestens 1000 -1200 Jahre verbriefte Geschichte. Die Siedlung in North Carolina wurde nach Charlotte von Mecklenburg-Strelitz genannt. Diese Dame war die Gattin von König Georg III. «Darum nennen wir unsere Stadt ‘Queen City’», berichtete Bob.
Zu Beginn des 18. Jahrhunderts brachte ein Fischer einen 17 Pfund schweren Stein nach Hause. Der diente Jahre lang als Türstopper. Ein Juwelier identifizierte drei Jahre später den Stein als einen Klumpen reinen Goldes. Ein Goldrausch war die Folge, der Beginn für die wirtschaftliche Evolution von Charlotte. Damals zählte die Stadt rund 200’000 Einwohner. Für amerikanische Verhältnisse ein Kaff. Dort befand sich unsere Firma. Sie hiess «Uster-Corporation». Ihr Tätigkeitsgebiet war die Messtechnik für die sich dort befindende Textilindustrie. Die Firma entwickelte sich prächtig.
Bob und ich blieben Freunde. Vor etwa 20 Jahren ging er in Pension. Auf einer Europareise kam er auch nach Zürich. Bei einem Abendessen dozierte er die Lebensphilosophie, nach der er jetzt lebte.
Es gibt einfach nichts Besseres, als ein Seenager zu sein!
Ich habe gerade meine Altersgruppe entdeckt. Ich bin ein Seenager (Senior Teenager). Ich habe alles, was ich als Teenager haben wollte, nur 60 Jahre später. Ich muss nicht zur Schule. Ich muss nicht zur Arbeit gehen. Ich bekomme jeden Monat meine Rente. Ich habe meine eigene Wohnung. Ich muss nicht abends um 11 Uhr zu Hause sein. Ich habe keine Ausgangssperre. Ich habe einen Führerschein und mein eigenes Auto. Mit meiner ID kann ich in jede Bar, in jede Weinhandlung. Am liebsten bin ich in den Weinhandlungen.
Die Leute, mit denen ich herumhänge, fürchten sich nicht, schwanger zu werden. Sie haben vor nichts Angst. Sie haben ein Leben lang glücklich gelebt, wovor sollten sie Angst haben? Und ich habe keine Akne. Das Leben ist gut.
Wenn sie das gelesen haben, werden sie, wenn sie ein Seenager sind, sich viel intelligenter fühlen. Weil ältere Leute so viel wissen, arbeiten ihre Hirne langsamer. Es ist nicht so, dass sie mit zunehmendem Alter geistig schwächer werden. Sie haben so viele Informationen in ihrem Gehirn, dass es etwas länger geht, sich an all die Fakten zu erinnern. Wissenschaftler behaupten, dass sie dadurch auch schwerhörig werden, weil der Druck auf das Innenohr stetig zunimmt. Verursacht durch das viele Wissen.
Ab und zu begeben sich ältere Leute in ein anderes Zimmer, um dort etwas zu holen. Wenn sie dort angekommen sind, stehen sie da und fragen sich, warum sie überhaupt hier sind. Das hat nichts mit nachlassendem Gedächtnis zu tun. Es ist eine natürliche Reaktion des Körpers, für mehr Bewegung zu sorgen.
Inzwischen sind viele Jahre ins Land gegangen. Heute zählt Charlotte 850’000 Einwohner. Sie ist damit die siebzehntgrösste Stadt der USA. Bob lebt schon lange nicht mehr. Charlotte hat sich zu einem gesunden Finanzzentrum und einer starken Wirtschaftszone entwickelt. Damit wuchs auch die Skyline. Hochhäuser bis zu 60 Stockwerken zieren den Horizont.
Bob war der Vertreter jenes Amerika, welches wir so bewunderten. Das Land, wo jeder, der wollte, eine Karriere machen konnte und am Aufbau der wichtigsten Volkswirtschaft teilhaben konnte. Heute ist alles anders. In unserem Berufsleben war Amerika das Vorbild. Das Land der Sehnsucht. Wer konnte, hatte nur einen Wunsch: dort leben und wirken zu können.
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