Die klandestine Heirat der Stochalperin III

Dritte Fortsetzung

Hildebrand machte sich gleich auf die Suche nach seiner Schwester. «Wie bringe ich ihr diese Nachricht bloss bei?», dachte er. Ludmilla, die Kammerzofe von Margaretha, kreuzte gerade den Gang und riss Hildebrand aus seinen missmutigen Gedanken. «Ludmilla! Weisst du, wo sich meine Schwester gerade befindet?»
«Sie ist in der Schlosskapelle, gnädiger Herr, schon seit einer Weile.»
Margaretha hatte es sich seit einigen Monaten zur Gewohnheit gemacht, sich in die Schlosskapelle zurückzuziehen. Dort herrschte Stille, und sie konnte ihren Gedanken nachgehen. Eben hatte sie ein Brieflein von Ferdinand erhalten, auf geheimem Postweg über Roswitha und Ludmilla. Immer wieder hatte sie die gute Post gelesen. In vier Tagen, nachts um elf Uhr, sollte sie sich beim Grossvater ihres Patenkinds Genovefa mit ihm treffen. Severin Glenz, der Vater des Rebmeisters, hatte ein kleines Haus in Glis. Gleich hinter der Saltina, an der Strasse nach Visp.
Ihr war wehmütig und freudig zugleich zumute. Die Idee, aus diesem goldenen Käfig befreit zu werden, beflügelte ihre Gedanken. Endlich dieser Männerwirtschaft den Rücken kehren. Endlich ein freier Mensch sein. Endlich eine eigene Familie und Kinder in einem standesgemässen Umfeld haben. Betrübt, ängstlich sogar, wurde ihr ums Herz, als sie sich bewusstwurde, wie sehr diese geheime Eheschliessung ihren Vater kränken würde.
Knarrend öffnete sich die Türe zur Kapelle. Flugs faltete sie den Brief und steckte ihn in ihr Gebetsbuch. Hildebrand rutschte auf die Kirchenbank ganz nahe zu Margaretha. «Eine Warnung vorab, Papa ist fuchsteufelswild.»
«Was habt ihr wieder ausgefressen?», entgegnete die Schwester. Sie wusste, dass die cholerischen Ausfälle des Vaters meist ihren Ursprung in irgendwelchen üblen Taten ihrer Brüder hatten.
«Diesmal bist du, liebes Schwesterchen, der Grund seiner Rage. Deine oh so geheimnisvoll geplante Hochzeit mit dem jungen Junker Werra ist aufgeflogen!» «Woher wisst ihr das?»
«Der Kaplan war da und hat alles berichtet.»
Hildebrand liess ihr keine Zeit für Fragen. Er wusste, dass er es mit einer echten Stockalperin zu tun hatte. Einer Dame, die sehr genau wusste, was sie wollte und durchaus in der Lage war, ihren Willen durchzusetzen. Weder die politischen Argumente noch die Schonung des Vermögens und schon gar nicht die Erhaltung der Macht im Oberwallis waren Gründe, von ihrem Ansinnen abzukommen.
«Ich habe Verständnis für deinen Freiheitsdrang. Aber du hast das Pech, eine Frau zu sein. Damit bist du deinem Vater gegenüber zu vollkommenem Gehorsam verpflichtet. Der will, dass du deiner Schwester Crescentia ins Kloster folgst.»
Margaretha war der Verzweiflung nahe. Die jüngste Tochter von Kaspar Jost weinte herzzerbrechend und war nicht zu trösten.   

Nach dem Frühstück hatte Bonaventura seinen schwarzen Lieblingshengst satteln lassen. In zügigem Tempo genoss er den Ritt der Rhone entlang abwärts. Die frische Luft, die flotte Gangart des Pferdes und die schöne, zwar eher karge Landschaft versetzten ihn in gute Stimmung, trotz des mühsamen Auftrags, den er auszuführen hatte. Gegen Mittag kam er zur Suste von Leuk. Den Pfynwald zu durchqueren, war nicht ratsam. Er wählte den Weg über die gedeckte Holzbrücke nach Leuk-Stadt. In der Herberge zur Post bezog er Quartier.
Zur Teezeit meldete sich Bonaventura bei Ferdinand. Der war überrascht, von einem hohen Mitglied der Stockalperfamilie Besuch zu bekommen. In der guten Stube des Balethauses – einer der vielen Wohnstätten der Werras in Salgesch und Leuk – kam der Gast zu seinem Anliegen. Diplomatisch tastete er sich an das Thema heran. Er teilte mit, dass man in Brig von seinen geheimen Absichten wisse.  «Wir hätten gar nichts gegen eine Verbindung unserer beiden Familien über meine jüngere Schwester einzuwenden. Doch die junge Dame will unbedingt ins Kloster. Sie hat mich gebeten, Sie zu bitten, von weiterem Werben abzusehen. Sie sei fest entschlossen, den Schleier zu nehmen. Durch eine intensive Korrespondenz mit ihrer Schwester bereite sie sich auf ihr künftiges Leben in Keuschheit, Armut und Gehorsams vor.»
Ferdinand stand da wie ein begossener Pudel. Die Nachricht stand in vollkommenem Gegensatz zu den Vereinbarungen mit Margaretha.
Bonaventura klopfte Ferdinand auf die Schulter und verabschiedete sich jovial mit den Worten: «Kopf hoch, es gibt noch viele standesgemässe Fräuleins in unserem Lande. Sehen Sie sich um und geniessen Sie Ihre Jugend. Gott befohlen.»  Ferdinand verstand die Welt nicht mehr. Oder verstand er die Frauen nicht? Er brauchte ein Gespräch. Mit einem ehrlichen, treuen Freund. Seit dem Tode seiner Eltern hatte diese Rolle der Domherr Marius Margelisch in Sitten übernommen.
Ferdinand war zerknirscht, enttäuscht, beleidigt. In seinem Groll ritt er nach Sitten. Sein Freund, Domherr Marius Margelisch, empfing ihn mit einem wenig schmeichelhaften Kompliment: «Ferdinand, du bist bleich. Deine Lippen sind zu einem Strich zusammengepresst, deine Stirn hat zu viele Runzeln. Bist du krank?»  «Nein, aber mein Herz ist gebrochen. Margaretha will mich nicht mehr sehen. Sie will ins Kloster!»
«Wer vom Herrn berufen wird, muss diesem Rufe folgen. Sie wird für dich beten.»  «Ich glaube nicht, dass das die Wahrheit ist. Ich bin verzweifelt. Herr Marius, Sie haben mir die Dispens verschafft. Ich hatte alles geordnet. Und da taucht dieser Bonaventura Stockalper auf und teilt mir mit, Gritli liebe mich gar nicht und wolle den Schleier nehmen. Was soll ich nur tun?»
«Geh zu deinem Oheim nach Wien. Schreibe dich dort an der Universität ein. Absolviere ein Studium. Die Zeit heilt alle Wunden.»
Drei Wochen später traf Ferdinand in der Kaiserstadt ein. Er wohnte bei seinem Grossonkel Joseph Alexis Julier von Badenthal im Stadtpalais Tabor. An der Universität widmete er sich der Rechtsgelehrsamkeit.

Fünf Jahre später kehrte er als Jurist ins Wallis zurück. Nach bestandenen Prüfungen erwarb er vom Staat die Lizenz als Notar.

Die vierte Fortsetzung erscheint am 15. Juli 2018

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