Wandel

«Die Welt ist aus den Fugen!» Herr Hagen hat nicht ganz Unrecht. Alle Leute, die ich im Laufe der letzten Wochen antreffe, strahlen Unzufriedenheit, Unsicherheit, Ungewissheit und eine Zukunftsangst aus.

Nicht so Herr Hagen. Jeder kennt ihn. Er gehört zum Dorf wie die Poststelle oder die Kirche. Es besteht keine Möglichkeit, Herrn Hagen, diese Frohnatur, nicht anzutreffen. Er ist immer überall. Auf dem Waldweg, wenn man allein auf einem Spaziergang in Ruhe nachdenken möchte. Ebenso im Grossverteiler beim Wocheneinkauf. Hagen ist da. Er strahlt dich an. Bevor man es sich gewiss ist, hat er einen schon mit samt dem Einkaufzettel in ein – wie er sagt – wichtiges Gespräch gewickelt. Es braucht Schlauheit und Diplomatie, seinem Redefluss zu entkommen. Dies, weil er die Gabe hat, interessante Themen verständlich zu erläutern.

Klar! Europa, und nahezu die ganze Welt, erlebt zurzeit einen Umbruch. Wir sind unterwegs in eine neue Epoche. In dieser Übergangszeit erscheint alles turbulent, nicht vorhersehbar, chaotisch. Dieser Zustand ist nicht neu. Er tritt immer auf, wenn grosse Umwälzungen bevorstehen.
Sie müssen nicht nur in der grossen, weiten Welt daherkommen. Auch ein Umzug aus einem Einfamilienhaus in eine Vierzimmerwohnung mit Balkon im vierten Stock, löst für den, den es betrifft, ähnliche Verwerfungen auf. Nur, diesmal hat es die ganze Menschheit erwischt.
Seit der Mensch begann, auf zwei Beinen zu laufen, durchschritt er Epoche um Epoche. Je weiter er kam, desto mehr veränderte er die Struktur, die er eben verlassen hatte. Die Wildbeuter wurden sesshafte Bauern. Die Bauernhöfe entwickelten sich zu Dörfern und Städten. Die Bevölkerung wuchs. Das Gewerbe trennte sich von der Tierzucht und dem Ackerbau. Die ersten Vorboten der Industrie hielten Einzug. Das Spinnrad; der Webstuhl; die Windmühle; das Wasserrad. Die anschliessende Entwicklung des Buchdruckgewerbes war eine enorme Innovation, vergleichbar mit dem Internet. Die Gesellschaft begann sich zu organisieren, Hierarchien entstanden.
James Watt brachte die Dampfmaschine zum Laufen. Die erste industrielle Revolution brach, wie ein gewaltiger Wolkenbruch, über Arbeit und Gewerbe her. Die Muskelkraft wurde durch die Maschinenkraft ersetzt. Der Maschinenbau knüpfte Erfolg an Erfolg: automatische Webmaschinen, Dampflokomotiven, Eisengiessereien und Druckpumpen erleichterten die Arbeit der Menschen.
Die zweite Revolution, das Fliessband, krempelte die Fertigungstechnik um. Die Massenproduktion von Autos, Radios, Fernsehgeräten und anderen Produkten überschwemmten den Markt.
Die Dritte brachte den Computer, und aus ihm ging die künstliche Intelligenz hervor.
Von Meilenstein (Spinnrad) zu Meilenstein (Roboter) veränderte der Mensch mit seiner Neugier, seiner Schlauheit und seinem Durchhaltewillen die Welt, in der wir heute leben. Veränderte er die Welt von Epoche zu Epoche in die nächste. Perioden der Ruhe und der Prosperität wechselten mit Abschnitten des undurchsichtigen Durcheinanders.

In einem solchen Zeitabschnitt, einem solchen Umbruch, befinden wir uns jetzt. 1950 hing das Telefon noch an der Wand. Heute trägt es ein jeder es in seiner Tasche. 1969 landete der erste Mensch auf dem Mond. Heute hängt der Kosmos voller Satelliten. Eine Landung eines Menschen auf dem Mars wird ernsthaft in Erwägung gezogen.
Plötzlich hatten wir von allem zu viel. Zu viele Konsumgüter, zu viele Fluggesellschaften, zu viele Autos. Zu viel Raubbau an lebenswichtigen Ressourcen wird gedankenlos in Kauf genommen, zu viele Menschen auf unserem Planeten. COVID 19 erzwang einen Marschhalt.

Auf einmal hatten wir Zeit über unsere Leistungen nachzudenken. Vieles, was wir liebgewonnen haben und was wir für richtig gehalten haben, wird in Frage gestellt. Zur Weiterentwicklung des Fortschritts gehört der Wandel der Strukturen. Betrachten wir, um beim Beispiel zu bleiben, das Empfinden der Beteiligten bei der Einführung der automatischen Webmaschinen im Zürcher Oberland. Alle im Land verstreuten Handwebstühle wurden nicht mehr gebraucht. Die Heimarbeiter wussten weder ein nach aus. Kein Einkommen mehr, eine Katastrophe, keine Besserung in Sicht. Ein paar Jahre später, der Pulverdampf hatte sich gelichtet, fanden sie besser bezahlte Arbeit in den Fabriken. Wie waren wohl die Gefühle der Büroangestellten und Buchhalter viele Jahrhunderte später, als ihre Arbeit von Computern übernommen wurden? Ein ähnliches Bild tat sich auf.
Das genaue Gegenteil war bei der Papierherstellung und der Einführung der Druckerpresse zu beobachten. Die Herden von Ziegen mussten ihr Leben nicht mehr lassen, um das Pergament als Schreibunterlage zu liefern. Neue Möglichkeiten taten sich auf. Man lernte etwas ganz Neues. Man lernte lesen. Daraus ergaben sich neue Chancen, bessere Jobs.
Die Zeit, in der ein solcher turbulenter Wandel stattfindet, dauert in der Regel 10 bis 20 Jahre. Diese Zeitspanne ist für den Menschen, der sie erlebt, die Hölle. Er sieht keinen Ausweg, er fühlt sich bedroht, er hat Angst bezüglich allem, was auf ihn zukommen könnte. Er wünscht die gute alte Zeit zurück. Leider war sie nicht so gut wie sie im Rückspiegel aussieht.

Was uns die Geschichte gelehrt hat, ist, dass diese Zukunft, wenn sie einmal Gegenwart geworden ist, besser ist, angenehmer ist, schöner ist. Das erlebten viele von unseren Vorfahren, die im Sog der Epochenablösung herumgewirbelt worden waren. Alle haben es erlebt.
Die Bauern auf dem Feld. Die Städter in den Werkstätten. Die Weber an den Handwebstühlen. Warum nicht auch wir?

Es besteht Zuversicht. Wir werden die Zeit der Krise überleben. Die Welt ist noch nie untergegangen.

Das nächste Mal, wenn ich Herrn Hagen sehe, werde ich ihm sagen: «Die Welt erscheint nur so, wie wenn sie aus den Fugen geraten wäre. Stimmt nicht. Im Gegenteil. Sie ist auf dem Weg in eine bessere Zukunft.»

 

 

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Ein Gedanke zu „Wandel“

  1. Marcel Köpfli v/o Maik schrieb folgenden Kommentar
    Wandel
    An mehreren Fronten
    In seinem neuen Essay führt uns Hans v/o Wespi durch die heutige Zeit, in welcher wir, wie auf einem Fliessband, von einer Errungenschaft zur nächsten geschleust werden. Gleichzeitig erleben wir eine ziemlich friedliche Epoche, welche es seit Menschengedenken nicht gegeben hat. Diese Entwicklung verschafft uns grossen Wohlstand. Wäre da nicht der sich abzeichnende Klimawandel. Der letzte uns bekannte Klimawandel erlebte die Menschheit im 16. Jahrhundert, anfangs 17. Jahrhundert. Man nannte sie die ‚kleine Eiszeit‘. Sie brachte den Europäern grosse Hungersnot, wegen Missernten und Krankheiten, herbeigeführt durch die außerordentliche Kälte, auf welche die Bevölkerung nicht vorbereitet war. Auch gab es außerordentlich viele Erdbeben und ein grosser Vulkanausbruch in Südamerika besorgte den Rest. Durch Hunger, Seuchen, und Kriegen raffte diese Eiszeit ein Fünftel der damaligen Menschheit dahin. Gründe für diese Katastrophe suchte man bei Gott, welcher als Rächer für die verdorbene Menschheit herhalten musste. Die Hexenverbrennungen hatten in ganz Europa Hochkonjunktur.
    Nun steht uns ein neuer Klimawandel bevor. Diesmal wird es wärmer. Statt Hexen werden nun die in den letzten 150 Jahren erbrachten technischen Errungenschaften auf den Scheiterhaufen verbrannt. Statt aus den früheren Klimawandeln zu lernen, werden Sündenböcke gesucht. Verständlich geht die Jugend auf die Barrikaden. Sie sieht ihre Zukunft in Gefahr und schlägt blind um sich.
    In monotonen, publikumswirksamen Erklärungen der Elite dieser Menschheit werden Modelle entworfen, wie man die in die Höhe kletternden Wärmegrade wieder auf unser Wohlempfinden reduzieren könnte. Alles Mögliche wird aufgeführt. Bringts Umsatz ist es gut, kostet es Einschränkungen geht’s gar nicht. Die Natur ist stärker. Statt herumzubasteln, wäre es sinnvoller die Menschheit auf die Umstellung vorzubereiten und ihr die notwendigen Mittel zur Verfügung zu stellen, um der neuen Herausforderung gewachsen zu sein. Eine so hoch entwickelte Industrie, unermessliche Finanzen, keine Kriege gewillte Menschheit, und nicht zuletzt die Aufklärung sollte dies ermöglichen.
    Im 16. Jahrhundert war das anders. Man ist lernfähig.
    maik
    26.4.2021

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