Im Esszimmer ertönte Kindergeschrei. Beim Eintreten erblickte Ferdinand als Erstes seine Stiefmutter Margaretha, ferner seine Tante Christine sowie die Zofe Rosa und vier Kinder, die 15-jährige Patientia, ihr fünf-jähriger Bruder Joseph und Urban, drei Jahre alt. Auf dem Schoss sass die zweijährige Maria. Mama Margrit umarmte ihren Stiefsohn und zog ihn fest an ihre Brust. «Herzlich willkommen, mein lieber Ferdi, und meine Gratulation zur bestandenen Matura. Da Papa heute nicht zum Essen kommt, nimmst du am besten seinen Platz ein.» Tante Christine war unverheiratet und amtete in der Familie als Gouvernante. Sie wohnte auch im Balethaus und kümmerte sich um die Kleinen. Die zwei Buben sassen links und rechts neben ihr. Patientia war schon fast erwachsen und hatte ihren Platz neben der Mutter. Die Kinder waren laut. Die Erwachsenen versuchten es mit erzieheri- schen Ermahnungen. Mit wenig Erfolg. Als Mutter sagte. «Wir beten», stellte sich endlich absolute Stille ein. Das gemeinsam gesprochene «Amen» wirkte wie ein erlösendes Signal. Mama hob mit klarer Stimme zu einer kleinen Rede an. «Heute ist der grosse Bruder aus Brig wieder nach Hause gekommen. Er hat dort ein Di- plom erworben, die Matura. Wir gratulieren ihm und heissen ihn willkommen.» Alle klatschten und fielen gleichzeitig über das aufgetragene Essen her. Nach Tisch kümmerten sich Tante Christine und die Zofe um die Kinder. Mama und Ferdi tranken noch einen Kaffee. «Endlich Ruhe! Unser Haushalt hat sich in der Zeit, als du fort warst, sehr verändert. Die Erziehung der Kinder braucht viel Zeit. Abends bin ich todmüde. Lange sind wir Grossen nach dem Essen auch nicht mehr auf. Auch heute möchte ich mich jetzt zurückziehen. Ich wünsche gute Nacht.» Ferdinand hatte sich die Empfangszeremonie nach seiner Rückkehr anders vorge- stellt. In der Küche fand er Valentin. In aller Heiterkeit war er mit Ludwina am Schäkern. Er setzte sich hinzu, fühlte sich aber nicht erwünscht. So ging auch er eine Viertelstunde später auf seine Kammer. Es war ein spartanisch eingerichtetes Zimmerchen unter dem Dach. Eine Unterkunft für Kutscher oder Kuriere, die übernachten mussten. Das Zimmer, welches er in seiner Jugend mit Alex geteilt hatte, war längst für die Kinder in Gebrauch. Er legte sich aufs Bett und begann die Dachziegel zu zählen. Dabei fiel er in ein Selbstgespräch: «Das ist nicht mehr meine Familie.»
So gut er konnte, half Ferdinand im Haushalt mit, wie vor seinem Studium. Kein Mensch hatte von seiner Rückkehr Kenntnis genommen. Er war einfach wieder da. Inzwischen schon drei Tage. Nach getaner Arbeit im Stall pilgerte er durchs Dorf. Ungewollt landete er in der Nähe des Pfarrhauses und setz- te sich, genau wie früher, auf der Bruchsteinmauer beim Turm. Er fühlte sich unsicher und unerwünscht. Seine Gedanken drehten sich immer um dieselbe Frage: «Wie soll das weitergehen?» Im Balethaus konnte er nicht weiter woh- nen. Er musste sein Leben selbst in die Hand nehmen. Am liebsten wollte er weiterstudieren. Rechtsgelehrsamkeit in Basel zum Beispiel. Das kostete eine Menge Geld. Und das war spärlich vorhanden. Die Kinderschar brauchte viel Aufmerksamkeit. Die hatten dauernd Hunger. Es fehlte an allen Ecken. Da war ein neuer Kostgänger nur dann gefragt, wenn er an die Ausgaben des Haushalts einen tüchtigen Beitrag leistete.
Studieren ging folglich nicht.
«Am besten, ich werde Priester und gehe später ins Kloster», sprach er zu sich selbst, «die Kirche übernimmt Kost und Logis. Für das Theologiestudium fallen keine Gebühren an. Dafür gibt es auch keinen Lohn später im Amt.
Geht auch nicht. Ich bin nicht fürs Zölibat geboren.
Als Offizier in fremden Kriegsdiensten Sold beziehen, ist zwar lukrativ, aber lebensgefährlich.
Geht auch nicht. Ich bin nicht für den Waffengang zu gebrauchen.
Bleibt nur noch die vermögende Frau. Die muss ich finden und heiraten. Diese Spur werde ich weiterverfolgen müssen. In Salgesch gibt es keine reichen Bräu- te. In Sitten oder Brig, vielleicht in Leuk wäre ein Angebot vorhanden.
Ich kann es drehen, wie ich will. Ich muss weg von hier!»
Nach dieser Beurteilung seiner möglichen Zukunft ging er, einen Umweg wählend, in den Hof zurück. Um die Kirche kurvte gerade der Geometer Constan- tin mit seinem Wagen, auf dem seine Messgeräte lagen, in die Hauptstrasse ein. Er hielt an. «Mein lieber Ferdinand, man hat mir berichtet, du seist zurück. Gratulation zur Matur. Wie sieht die Zukunft aus?» Im Gespräch erörterte Ferdinand so delikat wie möglich die schlechte finanzielle Situation in der Fa- milie. Kein Geld für ein Studium. «Dem Manne kann geholfen werden. Heute ist Samstag. Komm am Dienstagnachmittag in meine Schreibstube. Vielleicht hätte ich da etwas für dich. Einen schönen Sonntag wünsche ich.» Die Pferde zogen den Wagen an, und Herr Constantin verschwand der Hauptstrasse folgend.
Kurz nach zwei klingelte Ferdinand am Haus des Geometers. Ludmilla, jetzt ein stattliches Fräulein, öffnete, erkannte ihn sofort und liess ihn eintreten. Auf dem Weg zum Arbeitszimmer plauderte sie darauflos. Sie sei natürlich nicht beim Pfarrer in der Unterweisung gewesen. Aber Papa habe ihr Lesen, Schrei- ben und vor allem Rechnen beigebracht. Jetzt helfe sie Papa bei der Feldarbeit und bei der Erstellung der Pläne.
Theobat Constantin kam ohne Umschweife zum Grund, warum er Ferdinand zu sich geladen hatte. Ludwina hatte inzwischen eine Karaffe mit Wasser und zwei Gläser bereitgestellt und zog sich geräuschlos zurück. «Also, die Sache ist die Folgende. Wie du weisst, liegt Sitten in Staub und Asche. Mein Kollege Antonio Barberini, auch ein Geometer, hat seinen Gehilfen beim Brand ver- loren. 26-jährig, ein Desaster. Er braucht dringend Ersatz. Du wärst ein idealer Kandidat. Gesund, ausdauernd und gebildet. So jemand braucht er. Viel Lohn gibt es nicht. Drei Batzen pro Stunde. Dafür freie Verpflegung und Unterkunft. Was meinst du?» Lange musste Ferdinand nicht nachdenken. Die Männer be- sprachen die Details. «Nächsten Dienstag, erster Juli, am Tage des heiligen Theoderich, meinem Namenstag, fahren wir gemeinsam nach Sitten. Ich habe dort auch noch einige Aufträge in Arbeit. Geometrie ist im Moment in Sion gefragt. Und du beginnst bei Barberini.»
Handschlag!
Unbarmherzig brannte die Sonne und heizte das Rhonetal auf. Wie jedes Jahr um diese Zeit strahlte sie in voller Kraft vom Aufgang bis zum Untergang. Auch an diesem Sommersonntagmorgen tat sie ihre Pflicht. So viele leere Bän- ke wie heute in der Kirche zum Hochamt gab es nur, wenn das Vieh und die Familien auf den Alpen waren. Auch die Predigt fiel heute besonders kurz aus. Das Mittagessen entsprach nicht dem gewohnten Ritual. Ludwina hatte sich bemüht, ein Sommermenü zu kreieren. Es kam bei der Tischrunde nur teil- weise an. Die sonntägliche Feststimmung kam nicht auf, dafür gab es bessere Voraussetzungen. Kindergeschrei, zurechtweisende Erwachsene und die quä- lende Hitze waren wenig geeignet, eine gute Ambiance zu schaffen, um ein gutes Mahl zu geniessen. Kaum war der Kaffee getrunken, flüchteten Papa Alex und sein Sohn ins Freie. Wortkarg schlenderten sie durch die menschenleeren Gassen, durch die Reben zum Baumgarten. Die wackelige Holzbank im Schat- ten des mächtigen Nussbaums erwartete sie schon. Die beiden Herren setzten sich. Immer noch wurde kein Wort gewechselt. Drückende Hitze, drückende Schweigsamkeit. Unverständlich, lag doch sommerlicher Duft in der Luft. Dieser Geruch nach Sommer. Nach langsam reifenden Früchten. Nach frisch geschnittenem Gras. Bienen und Hummeln besuchten die noch spärlich vor- handenen Blümchen an den umstehenden Stauden und Sträucher. Es war ein schöner Sommertag, trotz Hitze und Schweiss.
«Ich muss hier weg!» Es war Ferdinand, der das Schweigen brach.
«Du musst nicht weg.»
«Doch. Ich kann euch nicht länger auf die Pelle gehen.»
«Du gehst uns doch nicht auf die Nerven.»
«Papa, ich bin bald volljährig. Ich habe eine Matur. Ein Studium kommt aus pekuniären Gründen nicht in Frage. Ich muss mein Geld selbst verdienen. Ich muss auf eigenen Füssen stehen.»
«So, und wie?»
«Der Kollege von Geometer Constantin in Sitten – er ist auch Landvermes- ser – hat bei der Feuersbrunst seinen Gehilfen verloren. Barberini heisst er. Er bietet freie Kost und Logis und drei Batzen die Stunde.»
«Du bist doch kein Geometer.»
«Ich kann gut rechnen. Das war mein Lieblingsfach in Brig. Ich werde meinen Mann stellen.»
«Und wann?»
«Nächsten Dienstag. Constantin hat einen Vermessungsauftrag in Sitten. Ich kann mitfahren. Er wird mich bei Barberini einführen. Die Hauptstadt braucht jetzt viele Landesvermesser.»
«So, so.»
«Papa, eine solche Chance gibt es nur einmal im Leben. Ich werde zupacken.»
«Es gibt Alternativen. Du könntest Offizier werden und viel Geld verdienen. Nimm dir ein Vorbild an der Familie Cocatrix.»
«Das kommt nicht in Frage. Und das weisst du ganz genau.»
«Dann werde Priester. Die Ausbildung ist gratis und im späteren Amt schiebst du eine ruhige Kugel.»
«Unmöglich für mich. Ich will etwas erschaffen. Etwas bewegen. In Sitten ist viel los. Vielleicht finde ich dort sogar eine reiche Braut. Mein Lebensziel ist, eine eigene Familie zu haben.»
«Damit du, wie ich, später kein Geld mehr hast, um deine Söhne studieren zu lassen.»
«Hör auf, dir Vorwürfe zu machen. Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied.
Es beginnt ein neuer Abschnitt in unser beider Leben. Du erziehst eine Schar Kinder. Ich suche mein Glück in Sitten.»
«Wenn du meinst. Viel Glück!»
Seit dem «Krieg des Rotweins» herrschte eine lange Periode des Friedens im Wallis. Diese schien zu Ende zu gehen, Im Unterwallis begann es zu brodeln. Die Bilder der französischen Revolution schienen Kopisten gefunden zu haben. Die unteren Zenden wollten nicht mehr als Untertanenland der Oberwalliser, als Vogteien verwaltet werden. Sie wollten an der Regierung des Landes als gleichberechtigte Bezirke teilhaben. Es war schon zu Scharmützeln gekommen. In Monthey und Saint-Maurice kam es zu revolutionsähnlichen Aufständen. Freiheitsbäume wurden errichtet. Es fehlte nur noch das Zündholz, um das Pulverfass zur Explosion zu bringen. Die Zenden des Oberwallis zeigten politi- sche Klugheit. Es kam zu Verhandlungen. Aufstände wurden damit verhindert. Es wurde ein Pakt auf Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit geschlossen. Das war im Jahr 1798. Dann entstand die Republik Wallis.
Bis es so weit war, brauchte es noch zehn Jahre.
Ferdinand wurde in Sitten ansässig. Ihm gefiel der städtische Betrieb. Mit seiner Arbeit als Hilfsgeometer kam er mit vielen Besitzern von Grund- stücken in Kontakt. Von Zeit zu Zeit wurde er von Angehörigen der BSS, der «bonne société sédunoise», eingeladen. Er galt bald als der meist um- worbene Junggeselle der Stadt. Ganz war Sion nicht abgebrannt. Rechts der Sitter wohnten die betuchten Familien. Mit der Zeit ging er bei den Riedmatten und den de Preux ein und aus. Er lernte das süsse Leben der Reichen kennen und schätzen. Dazu gehörte er allerdings nicht. Er war und blieb ein Fremdling, ein Spross einer verarmten Oberwalliser Adelsfamilie. Zu mehr als zu gelegentlichen Einladungen und ein bisschen Koketterie kam es nie.
Das Geschäft bei Barberini lief auf vollen Touren. Ferdinand hatte rasch be- griffen, worauf es bei der Landvermessung ankam. Neben der technischen Seite, exakter Feldarbeit, genauer Messarbeit und der Erstellung von Plänen, welche ein massstabgetreues Abbild der Liegenschaften aufzeigten, war der höflichen Betreuung des Auftraggebers besondere Beachtung zu schenken. Ferdinand war der ideale Mitarbeiter. Er erfüllte alle Anforderungen.
Auch Constantins Laden florierte. Regelmässig hatte er in Sitten zu tun. Neben der Arbeit berichtete er gerne und ausführlich, was in Salgesch und in Leuk los war. Er war auch der Postbote, der liegengebliebene Post aus Salgesch zum Adressaten brachte. So kam Ferdinand regelmässig zu seinen Petschaften. Der öffentliche Postkutschenbetrieb lieferte auch die Post im Lande ab. Allerdings war dieser Dienst alles andere als zuverlässig. Wer es sich leisten konnte, nahm die Dienstleistungen von Kurieren in Anspruch. Auch da kamen nicht alle Briefe ans Ziel. Ein Grund, weshalb die herrschenden Familien eigene Kurier- dienste unterhielten.
Kurz vor Weihnachten trafen sich Ferdinand und sein Chef im «Au verre ga- lant» in der Rue du Grand Pont, einer Pinte, welche für ihre Qualitätswei- ne bekannt war. Solche nach Feierabendaperitife kamen selten vor. Barberini musste wohl etwas Wichtiges zu berichten haben. Und siehe da. Nach dem zweiten Ballon Weissen wurde Barberini feierlich. «Lieber Herr Werra, ich möchte mit Ihnen über meine Vorstellung der Zukunft unseres Geschäftes sprechen.» Es ging um Folgendes: Barberini wollte Ferdinand als Partner in seinem Geschäft einstellen. Kein Stundenlohn mehr. Fixe Besoldung, eigene Aufträge, selbstständige Abrechnung mit den Kunden. Ab Neujahr wollte er unter «Barberini und Partner» firmieren. So kam Ferdinand zu eigenen Mess- geräten, einem stetigen Gehilfen und eigenen Aufträgen. Da sah die Zukunft gut aus. Auch im Neuen Jahr fehlte es nicht an Arbeit. Die Zeit verflog.
Kurz vor Palmsonntag überbrachte Herr Constantin einen Brief aus Salgesch. Sein Patenkind Titus feierte am Weissen Sonntag die Erste Kommunion. Ferdi werde in Salgesch erwartet. Er nahm die Woche nach Ostern frei und war wieder für ein paar Tage im Balethaus zu Gast.
Views: 47