Alex und Ferdinand hockten auf der kleinen Bruchsteinmauer beim Turm. Es hatte sich so eingebürgert. Nach dem Unterricht beim Pfarrer sassen die Brü- der gerne zusammen. Es ging darum, von der Atmosphäre des Pfarrhauses, in dem es immer ein bisschen nach Weihrauch roch, in die Realität des Alltags zurückzufinden. Im Grunde waren beide stolz, zu den wenigen Auserwählten zu gehören, die unterwiesen wurden. Sie galten als gute Schüler. Der Pfarrer war mit ihren Leistungen zufrieden. Alex war besonders gut in Latein. Er liebte es, die Sprache gut zu lernen und zu verstehen. Besonders faszinierte ihn die messerscharfe Logik der lateinischen Grammatik. Es war wie beim Schachspie- len, jeder Fehler wurde sofort sichtbar. In Gegensatz zum Schach konnte man Fehler, hatte man sie bemerkt, sofort korrigieren. Alex verglich die Struktur der Grammatik mit einem Schachbrett. Allerdings mit einem kleinen Brett, vier Quadrate lang und vier Vierecken breit. Und mit nur je vier weissen und vier schwarzen Figuren.
Ferdi war nicht so gut in Latein. Das Auswendiglernen der Vokabeln machte ihm Mühe. Er konnte sich dafür fürs Rechnen begeistern. Er konnte das kleine und das grosse Einmaleins auswendig und fehlerfrei. Er sah dieses Zahlensystem systematisch angeordnet vor seinem geistigen Auge. Zahlen waren für ihn mehr als nur Möglichkeiten, etwas zu berechnen. Für Ferdinand waren Zahlen eine Aufforderung, Geheimnisse zu ergründen. Drei mal sieben ist 21. Nicht 20 und nicht 22. Es gibt nur eine einzige richtige Lösung: 21. Ebenso 17 x 13 = 221. Es hatte lange gedauert, bis er zu den grossen Zahlen durchfand. Bis er so weit war, dass er 237×362=85´794 schriftlich ausrechnen konnte. Der Pfarrer hatte ihm einige Tricks beigebracht, wie man dort zurechtkommt. Die Finessen des schriftlichen Vorgehens hatte er selbst entwickelt. Beim Teilen wurde es komplizierter. 40:5=8 ist nichts anderes als eine umgekehrte Multiplikation. Für ihn ist 247:13=19 nichts anderes als das umgekehrte grosse Einmaleins. Bei den ganz grossen Zahlen 158569:617=257 hatte er noch keine Methode gefun- den, das richtige Resultat zu finden. Ein Trost, der Pfarrer konnte es auch nicht fehlerfrei. Da fiel ihm ein, dass es jemand in der Gemeinde gab, der das konnte. Es war der Geometer, Herr Theobat Constantin. Der hatte eine gleichaltrige Tochter wie Ferdinand. Als Mädchen ging sie natürlich nicht beim Pfarrer in den Unterricht. Frauen brauchten nicht lesen und schreiben zu können. Laetitia, so hiess sie, könnte ihm den Weg zu ihrem Vater ebnen. Bei diesem könnte er weitere Kenntnisse im schriftlichen Rechnen mit grossen Zahlen erwerben. Ferdinand beschloss, sich an die Maid heranzumachen.
«Das war gestern ein schönes Erlebnis bei Cousine Cathérine auf dem Majors- hof.» Alex riss Ferdi aus seiner Zahlenwelt zurück in die Realität.
«Ja, schon.»
«Es ist ein schönes Schloss mit einem grossen Garten und mit beeindruckend vielen Portraits an den Wänden.»
«So lebt eine adlige Familie. Personal für alles. Moritz und Ignaz werden nie schmutzige Hände von der Arbeit haben. Und auch keine Schwielen vom Holzspalten an den Fäusten. Bei denen wird alle Arbeit von Bediensteten erledigt. Den Garten jäten, die Pferde bürsten, den Tisch decken. Wie es sich gehört. Adlige Herrschaften lassen arbeiten. Sie leben in Schlösser an schönster Lage und regieren das Land. Genauso wie Cousin Oberst.»
«Stimmt.»
«Nur wir nicht. Wir sind zwar adlig, haben aber kaum Personal. Wir zwei können von Glück reden, dass wir vom Pfarrer unterrichtet werden und so ins Gymnasium kommen werden. Dann studieren und eine Frau mit einem Schloss heiraten. Bis jetzt ist es nur ein Luftschloss. Wer spaltet bei uns das Holz? Wer besorgt das Pferd? Wer jätet den Gemüsegarten? Wer kommt abends von Staub und Schmutz bedeckt nach Hause? Nicht die Angestellten, die wir nicht ha- ben. Wir zwei sind es!»
«Ein Schloss haben wir wenigstens.»
«Das war für mich das beeindruckendste Erlebnis gestern. Dieser in der Rot- tenebene liegende, total vergammelte Steinhaufen, genannt Mageranschloss. Es ist schon seit Generationen in unsere Familie und kein Mensch nennt es Werra-Schloss. Warum wohl? Weil wir dort nicht leben, nicht residieren. Weil uns das Gesinde fehlt, Garten und Gebäude sauber und instand zu halten. Das darf doch nicht sein!»
«Du scheinst ein prunkvolles Leben zu lieben.»
«Das ist mein Traum. Ich liebe ein gepflegtes, adliges Dasein über alles. Mit genügend gutem Personal. Eine herrschaftliche Unterkunft und grosse Freiheit. Leider ist das heute und hier in Salgesch nicht möglich. Aber glaube mir, Alex, ich werde meinen Traum verwirklichen.»
«Was können wir da schon ausrichten? Ich bin zufrieden hier in Salgesch. Mir geht es gar nicht so schlecht. Die Aussicht, bald ins Kollegium zu kommen, ist gut. Ich leide keinen Hunger. Auch plagt mich keine Langeweile. Die Leute sind freundlich und nett zu mir. Eigentlich bin ich zu beneiden. Vielen hier- herum geht es weit schlechter.»
«Alex, so darf ein Junker der Werras nicht denken und schon gar nicht reden. Unser Ziel muss es sein, dass wenigstens wir, wenn wir erwachsen sein werden und eine gute Ausbildung haben, in unserem Schloss residieren. Wir müssen mit Papa reden.» Ferdinand sprang als Erster von der Mauer. Alex folgte ihm. Die beiden schlenderten zum Hof. «Die Erde hat uns wieder», damit schloss Alex die hochtrabenden Gedanken ab und suchte nach der Axt, um Holz für die Küche im Balethaus zu spalten.
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