Labormantel

In der Zeit als bei Hoffmann-La Roche «Librium» hergestellt wurde, war ich dort Laborant. Unser Labor arbeitete an der Synthese von Carotin. Eine Arbeit, bei der viele starke Säuren und giftige Substanzen zum Einsatz kamen. Damit die persönlichen Kleider keinen Schaden nahmen, gab es bei Roche ein strenges Arbeitskleiderdiktat.

Wir, die Laboranten und Chemikanten, die unterste Stufe in der Hierarchie der Mitarbeiter in der chemischen Fabrik, trugen blaue Überhosen mit einer Metertasche am rechten Bein. Darin befand sich der Polylöffel. Das Standardwerkzeug eines jeden Laboranten. (Die Chemiker trugen als Berufswerkzeug einen kleinen Rechenschieber in der linken Brusttasche.) Polylöffel gibt es nur in der Chemie. An einem 20 Zentimeter langen Stiel zweigt eine Schöpfkelle nach links ab. Sie erinnert an jene abgekrümmten Babylöffel, mit deren Verwendung den Kleinkindern das Essen mit der rechten Hand eingetrichtert wird. Unser Polylöffel hing wie ein Colt in den Wildwestfilmen an der Arbeitshose. Man konnte ihn ziehen wie die Viehhüter in den Prärien es tun. Oft spielten wir im Labor Cowboy und zogen behänd unsere Waffe, den Polylöffel. Wer schneller schiesst, hat mehr vom Leben! Ganz wie im Film.

Mit einer Jacke aus schwerem Überkleiderstoff war man richtig gekleidet, um an die Arbeit zu gehen. Heute würde man vom «Blaumann» sprechen. Wir nannten es «Übergewändli». Der allmächtige Chef des Labors war der Cheflaborant, die nächst höhere Stufe auf der Karriereleiter. Der trug keine Überhosen. Er kam in den Privatkleidern und der nicht ganz zugeknöpften blauen Jacke zur Arbeit. Sein Hemd ohne Krawatte kam von zuhause. Der nächste auf der Karriereleiter war der Meister. Auch er arbeitete in Privatkleidern und blauer Jacke. Allerdings trug er eine Krawatte zum Hemd. Ein guter Meister wurde mit den Jahren zum Chefmeister befördert. Was einen völligen Tenüwechsel zur Folge hatte. Er trug einen kakifarbenen Arbeitsmantel. Wie sie ihn die Abwarte und Hausmeister zu tragen pflegen. Bei uns Gewöhnlichen in der Mannschaft ging das Gerücht: «Dr. Vischer, der oberste Chef der Fabrik, überlege, ob er bei den Arbeitenden Gradabzeichen einführen solle.» Roche wurde sehr militärisch geführt.

Da gab es noch die Herren im weissen Mantel. Sie wurden ausnahmslos mit «Herr Doktor» angeredet. Wir waren im Labor zu fünft. Ein Chef, zwei Laboranten, ein Gehilfe und eine Reinemachefrau, die sich um die Sauberkeit der Gläsernen Gerätschaften kümmerte. Uns war rasch klar, wer bei Roche in der Führung aufsteigen will, muss einen weissen Mantel tragen und Doktor sein. «Das,» beschloss ich, «ist mein Ziel!»

Da die Führung der Roche ideell der Armee sehr nahestand, war sie auch grosszügig bei den Gehaltzahlungen während den Militärdienstleistungen. Mein Gehalt wurde zu 50% während der ganzen Ausbildung zum Unteroffizier ausbezahlt. In der Rekrutenschule, in der Unteroffiziersschule und im Abverdienen lebte ich nur von meinem, eher bescheidenen Sold. Als ich nach der militärischen Ausbildung wieder bei Roche war, stand mir eine beachtliche Summe zu. Sie erlaubte mir während eines Jahres, ohne Geld zu verdienen, in der Privatschule Juventus mich auf die Aufnahmeprüfung an die ETH vorzubereiten und sie auch zu bestehen.

Jetzt war ich Student für Chemieingenieurwesen. Die Geschichte mit dem Labormantel fand ihre Fortsetzung. Die Hälfte des Unterrichts am Poly bestand aus praktischer Arbeit im Labor. Zu Semesterbeginn wurde der Laborplatz eingerichtet. Die notwendigen Laborapparaturen wurden aufgebaut. Die Chemikalien beschafft. Und ein Labormantel Grösse 56 gekauft. Dieser wurde grundsätzlich offen getragen. Er war mit vielen Taschen versehen. Sie dienten der Aufnahme von Schreibutensilien, einem Protokollbuch, in dem die Versuche festgehalten wurden, einer NZZ sowie eines kleinen Rechenschiebers. Ich war der Uniform der doctores bei Roche schon näher gerückt.
Am Semesterende war mein Labormantel nicht mehr weiss. Die Farbstoffe, die Reagenzien und Säuren unterschiedlicher Schärfe hatten ihre Spuren hinterlassen. Ihn zu waschen hatte keinen Sinn mehr. Er landete im Abfall.

Zu meiner Studienzeit, bewegten wir uns in einer reinen Männerwelt. Im Gegensatz zur Uni gab es nahezu keine Studentinnen. Im Hauptgebäude der ETH gab es damals kaum öffentliche Damentoiletten. Bei den Architekten studierten ein paar Mädchen. Bei den Elektroingenieuren entdeckte ich bei einem Konvent eine einzige Frau auf über hundertfünfzig Männer!
Die pharmazeutische Abteilung war ein Fremdkörper am Poly. Alle, die an der akademischen Ausbildung des Gesundheitswesens teilhaben wollten, mussten an die Uni: Humanmedizin, Zahnärzte, Tierärzte, und auch die Apotheker besuchten dort ihre Vorlesungen. Warum am Poly, der Stätte der Ingenieure, Apotheker ausgebildet wurden, wusste niemand. Dort waren viele Frauen immatrikuliert. Sie hatten ihr eigenes Lehrgebäude mit ihren Laboratorien. Es lag nahe beim Chemiegebäude. Täglich pilgerten die Damen mit ihren Fläschchen, wie in Lourdes zu gesegnetem Wasser. Bei uns handelte es sich um totalentsalztes Wasser, im Volksmund destilliertes Wasser. In unserem Labor stand die dafür nötige Aufbereitungsanlage. Hier holten die Kolleginnen der Pharmazie das kostbare Nass.
Wie am Dorfbrunnen im Mittelalter. Hier traf man sich, holte Wasser und leistete sich ein Plauderstündchen mit den zufällig anwesenden Studis der Chemie. Beim Zündholz muss beginnen, was werden will ein grosser Brand. So manche Bekanntschaft fand mit destilliertem Wasser ihren Anfang.

In unserer Abteilung gab es eine einzige weibliche Studentin. Eine flotte Frau aus Chur. Zwei Semester höher. Unerreichbar. Die einzigen weiblichen Wesen in den Korridoren und Kantoren rekrutierten sich aus Sekretärinnen der Professoren (Vorzimmerdrachen), Laborantinnen (flirte nie mit dem Personal) und den Angehörigen der Putzbrigaden. Es war ganz anders als heute. Es war eine pure Männerwelt. Heute hat es ungefähr so viele Studentinnen wie damals die Gesamtheit der Studierenden ausmachte.

Der Treffpunkt aller Chemiestudenten war die Chemiebar. Sie war die Dependance des Studentenheims, der Hauptmensa der ETH. In der Chemiebar gab es Frühstück und Mittagessen, sowie Zwischenverpflegungen und alkoholfreie Getränke. Sie wurde von Mitgliedern des Frauenvereins geführt. Wie die Soldatenstuben in den Kasernen.
Nach zwei bis drei Stunden Laborarbeit traf man sich dort zum Kaffee. Dem aufmerksamen Beobachter fiel vor allem zu Semesterende auf, dass es hier zwei verschiedene Spezies von Studis gab. Jene mit verschmutzen und beklecksten Labormänteln und die anderen, jene mit den sterilen weissen Schürzen. Diese trugen die Leute aus der physikalischen Chemie. Dort wurde nicht gekocht, destilliert, filtriert und kristallisiert. Dort wurde gemessen und gerechnet. Diese Freunde benahmen sich wie «wir sind die Elite». Die reinen Denker. Die echten Wissenschaftler. Der Stoff, aus dem die Nobelpreisträger geboren werden. Entsprechend schauten sie auf uns arme Laborarbeiter herab. Sie hüteten sich, mit uns am selben Tisch zu sitzen. Als besonderes Kennzeichen trugen sie ein paar Computerlochkarten in der Brusttasche. Ideales Material, um schnell ein paar Gedanken schriftlich festzuhalten. Lochkarten! Diese Kommilitonen konnten Computer programmieren und durften mit der ERMETH rechnen.

ERMETH steht für «Elektronische Rechenmaschine der ETH». Die ERMETH war eine der ersten elektronischen Rechenmaschinen in Europa. Sie stand im Poly, und dort durften die in den sauberen Mänteln rechnen.
Die ERMETH war eine Riesenmaschine mit einem Rechenwerk von 1500 Elektronenröhren. Der Arbeitsspeicher wog 1500 Kilo. Die elektrische Leistungsaufnahme betrug 30 kW. Für die Dateneingabe bei ERMETH dienten Lochkarten von Remington-Rand.
Sie war eine launische Lady, die ERMETH, sie lief nicht immer zuverlässig. Wenn die Tramlinie Nr. 6 die Weiche von der Rämistrasse in die Tannenstrasse elektrisch schaltete, gab die ERMETH den Betrieb auf. Am liebsten wurde nachts, wenn sich die Strassenbahnen in Depots verzogen hatten, gerechnet.
In mir stieg der Wunsch auf, auch einmal ein Semester lang mit sauberem Labormantel und mit Lochkarten in der Tasche daherzukommen.

Dieses Ziel wurde nur zur Hälfte erreicht. Ich konnte zwar am organischen Institut eine Diplomarbeit über Röntgenstrukturanalyse schreiben. Mit der ERMETH spielen durfte ich nicht. In den Schubladen des Instituts lagen haufenweise ausgediente Lochkarten herum. Ich steckte mir ein paar in die Brusttasche. Für eine kurze Zeitspanne gehörte ich jetzt auch zu den Studis mit sauberen Labormäntel und Lochkarten.

Als man mich, Jahre später bei Roche, als «Herr Doktor» ansprach, hatte ich einen kleinen Rechenschieber in der Brusttasche meines weissen Labormantels.

 

 

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Ein Gedanke zu „Labormantel“

  1. Lieber Hans, Deine Erinnerungen an den Labormantel sind wohl auch Erinnerungen an die verbreitete Freude an Statussymbolen.
    In der Medizin sind Statussymbole, zusätzlich zum weissen Mantel recht verbreitet. Da ist z.B. das locker um den Hals gelegte Stethoskop besonders verbreitet. In über 90% wird es von Leuten so getragen die nie einen Menschen abhorchen.
    Als ich an meiner ersten Stelle auf der inneren Medizin war hatte der damalige Chefarzt ein wunderschönes Stethoskop mit glänzenden Metallschläuchen. Bei den Visiten war es seine Gewohnheit das Stethoskop wohl korrekt in die Ohren zu platzieren aber dann laut mit den Patienten zu reden. Da war nichts mit echtem Abhören! Dafür pflegte er oft zu sagen: “typisch”. Typisch wohl für ihn, nicht aber für die Krankheit.
    Im Nachtdienst habe ich dann einmal das alte, die Öffnung komplett verschliessende Ohrenschmalz aus den Ohroliven entfernt. Das wurde nie bemerkt.
    Höhepunkt der Stethoskopanwendung war dann später, dass er die Ohrolifen gar nicht mehr in die Ohren legte aber trotzdem die Patienten “abhörte”.
    Jahre später im Unispital war es üblich in der Brusttasche einen Rechenschieber heraus schauen zu lassen, wegen der Wissenschaft.
    Das Thema hat, wie Du so schön beschreibst, viele Seiten. Wohl nach dem Motto: Eitel sei der Mensch, das ist so schön!
    Mit grosser Freude an Deinen Blogs grüsst Dich herzlich
    Werner

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