Die schlechte Nachricht brachte der Nikolaus letzten Dezember. In der Schweiz herrscht ein eklatanter Mangel an Leseverständnis. Das hatte die neuste PISA-Studie ans Licht gebracht. Die Schweiz war von dem elften Platz (2012) auf den siebenundzwanzigsten Rang zurückgefallen. Nicht genug, sie rangiert dabei unter dem OECD-Durchschnitt! Die Schweiz wird zu einem Land von Analphabeten! Während fünf Tagen wurde die Katastrophe in den Medien behandelt. Sofort waren Sündenböcke gefunden. Allen voran, die ungenügende Ausbildung in den Grundschulen und, natürlich, die elektronischen Medien. In grosser Hektik wurden Verbesserungsprojekte entwickelt. Darnach herrschte Funkstille. Nächste Meldungen sind nicht vor 2022 zu erwarten.
Natürlich ist Lesen wichtig. Meine portugiesische Putzfrau musste, als ich damals in Paris wohnte, immer ihren 12jährigen Sohn mitnehmen, als sie mit der Métro fuhr. Er musste ihr die Namen der Stationen vorlesen, damit sie am richtigen Ort aussteigen konnte, um ihre Kunden zu bedienen. Sie konnte nicht lesen! Für mich ein bleibendes Erlebnis. Können Sie sich vorstellen, liebe Leserin, lieber Leser, dass Sie «Stadelhofen» nicht lesen könnten?
So selbstverständlich wie es scheint, ist es nicht. Vor ein paar Monaten hatte ich an dieser Stelle geschrieben, der Mensch besitze das Kulturgut Schrift bloss seit 5’000 Jahren. Damals wurden die Nachrichten in Stein gehauen. Lesen und schreiben waren sehr elitäre Angelegenheiten und wurde meist nur von den Priestern beherrscht. Die Tempel der Antike und die Schreibstuben in den Klöstern zeugen davon.
Um eine einzige Bibel herzustellen, musste eine Herde von 70 bis 100 Ziegen ihr Leben lassen. Sie lieferten das Pergament, auf dem geschrieben und gezeichnet werden konnte. Heute können wir diese Kunstwerke in der Stiftbibliothek in St. Gallen bewundern. Ein Mönch hatte damals während der Hälfte seines Lebens an der Erstellung eines solchen Kunstwerks gearbeitet. Wenn er Glück hatte, kam er auf zwei Stück pro Leben. Ein Lebenswerk in lateinischer Sprache. Dabei war es nur einer Clique von Auserwählten zum Gebrauch zugängig. Sie konnten nicht nur lesen, sie sprachen auch Lateinisch.
Das änderte sich schlagartig. Die Papiermühlen im Mittelalter konnten aus den Abfällen der Webereien und Schneidereien Papier aus Lumpen herstellen. Auf einmal stand eine grosse Menge preiswerter Schreibunterlagen zur Verfügung. Das ermöglichte die Entwicklung des Buchdrucks. Plötzlich konnten die Schriften von Erasmus von Rotterdam in einer angemessenen Zeit produziert werden. Ein gewaltiger Quantensprung. Ein Buch konnte zu erschwinglichen Preisen gedruckt werden. Bücher beherrschten ab jetzt in grösseren Mengen den Markt. Wissen konnte schneller verbreitet werden. Allerdings immer noch in lateinischer Sprache.
Das rief den Benediktinermönch Martin Luther auf den Plan. Er hatte eine missionarische Vision. Die Bibel muss unters Volk. Jeder Haushalt soll das Wort Gottes zu Hause greifbereit haben. Jeder soll die Bibel in seiner Muttersprache lesen können. Was hiess: Weg mit dem Latein! Er begann, den Text ins Deutsche zu übertragen und legte den Grundstein zur Deutschen Standardsprache. Aus den vielen im Umlauf befindlichen Dialekten wurde die Einheit Deutsch geschaffen.
Da lag sie nun vor, die deutschsprachige Bibel in einem handlichen Buch. Leider konnte damals beinahe kein Mensch lesen. Zwar war inzwischen die Kaste der Priester um Notare, Professoren, Philosophen, Literaten und Schreibkundige erweitert worden. Letztere verkauften ihr Wissen auf dem Markt. Wer einen Brief schreiben musste, bediente sich ihrer Dienstleistung. Der Kunde hatte so einen Brief in Händen, wusste aber immer noch nicht, ob das was er mitteilen wollte, auch so im Schriftstück geschrieben stand. Der grosse Teil des Volkes war des Lesens unfähig, Analphabeten. Karl der Grosse konnte weder Schreiben noch Lesen.
Es ist noch gar nicht so lange her, bis es eine Schule gab, in der man Lesen, Schreiben und Rechnen lernte. Im Mittelalter und in der frühen Neuzeit war das Schulwesen vorwiegend eine kirchliche Aufgabe. Das erklärt auch die vielen Bilder und Gemälde, in denen die Szenen des Alltags und die Geschichten der Bibel festgehalten wurden. Frei interpretierte der Betrachter das, was das Bild ihm erzählte. Eine Vorstufe des Lesens.
Wieder war es ein Pionier, der die Verbreitung der Lesekunst für die ganze Bevölkerung ins Leben rief. Johann Heinrich Pestalozzi schaffte die Grundschule. Er legte den Grundstein zum obligatorischen Schulunterricht.
Es brauchte schon noch mindestens weitere ein bis zwei Generationen bis der Grossteil der Bürger lesen und schreiben konnte. Am Ende des 19. Jahrhunderts war es soweit. Eine grosse Menschenmenge lechzte nach Lesestoff. Die Printindustrie stand in den Startlöchern. Goethes Faust erschien in Buchform. Das war nicht gerade die Kost, wonach die Allgemeinheit nachsuchte. Die Zeitungen entstanden. Klatschspalten erschienen in den ersten Unterhaltungsblättern. Unfälle und Verbrechen wurden kommentiert. An den Plakatwänden wurde für Theater und Festlichkeiten geworben. Das Lesen war beim Volk angekommen.
Wer nicht lesen kann, findet nicht nur den Weg nicht, weil er die Wegweiser und Ortstafeln nicht entziffern kann. Er kann auch keine Bedienungsanleitung oder eine Zeitung entziffern. Ihm bleiben lediglich die gezeichneten Comics in den Zeitschriften.
Lesen gilt neben Schreiben und Rechnen als die wichtigste Kulturfertigkeit. Wer lesen will muss schreiben können. Die Alphabetschrift unseres Kulturkreises gibt die Möglichkeit, Werte aller Art festzuhalten. Von den Kochrezepten zum Inhalt eines Gesetzbuchs. Heute kann jedermann lesen. Stimmt nicht ganz.
Rund eine halbe Million der Bevölkerung in der Schweiz kann es nicht oder sehr ungenügend.
Das zu glauben, musste ich zuerst lernen. Die Leiterin des Personalwesens unserer Firma erklärte mir einmal, mit welchen Tricks Analphabeten, die bei uns angestellt waren, ihre Defizite versteckten. Die meisten arbeiteten in der Fabrikation. Dort mussten laufend Bestellscheine ausgestellt werden. Jeder Mitarbeiter musste für eine Materialbestellung im Lager eine Bestellliste ausfüllen. Wenn sie vom Meister unterschrieben war, war sie gültig. Die Ware konnte bezogen werden. Die Schreibuntüchtigen hatten da ein Handicap. Sie wollten ihre Bildungsschwäche mit allen Mitteln tarnen. So fanden sie immer einen Grund, die Bestellkarte von einem Kameraden ausfüllen zu lassen. „Ich habe meine Lesebrille in der Garderobe liegen gelassen.“ „Wie schreibt man Imbusschraube? Kannst Du mir den Zettel ausfüllen?“ „Meine Hand ist eingeschlafen, helfe mir bitte den Bestellschein zu schreiben.“
Nach dem zweiten Weltkrieg entstand die Sensationspresse. Der «Blick» wurde 1958 gegründet. Seine erste Schlagzeile lautete «Katze lief 300 Kilometer aus Heimweh!» Eine völlig neue Art von Zeitung war geboren. Es war das erste Presseerzeugnis für jedermann. Jedermann las es auch. Die einen demonstrativ offen, die anderen heuchlerisch im Versteckten.
Wer hat nicht schon einmal über die Menge von Gedrucktem in einem Zeitungskiosk am Flughafen gestaunt? Heute, im 21. Jahrhundert, man traut seinen Augen kaum. Sechs verschiedene Zeitschriften kümmern sich um den Golfsport. Sieben ums Fotografieren, acht ums Heimwerken, ganz zu schweigen von all den Zeitungen in den verschiedensten Sprachen. Die Presse ist gross geworden. Sie beschäftigt eine bemerkenswerte Angestelltenzahl von Journalisten, Redaktoren, Rezensenten, Zeitungsverträgern, Druckereiarbeitern, PR-Agenturen, Verlegern und Autoren. Daneben werden Druckereimaschinen, Papiermaschinen und Redaktionscomputer hergestellt. Ein ernstzunehmender Wirtschaftsfaktor, was sich da in den letzten 60 Jahren entwickelt hat.
Wieder durchbricht eine Innovation, aus dem Nichts heraus, den Gang der Dinge. Eine neue Schreibunterlage entsteht, der elektronische Bildschirm. Es ist keine Schreibunterlage im engeren Sinne. Eher eine schlechte Schnittstelle zwischen dem Leser und dem Geschriebenen. In der ersten Phase zierten klobige, gewichtige Bildröhren die Arbeitsplätze in den Büros. Die Mär vom papierlosen Büro machte die Runde. Dann wurden die Bildschirme handlicher und damit tragbar. Die dazugehörenden Computer wurden auch immer kleiner und ihre Speicherkapazität immer grösser. Das mobile Telefon, am Anfang noch recht unhandlich, mauserte sich zum Smartphone. Das Handy war geboren. Die wenigsten der Benutzer sind sich bewusst, dass sie damit einen sehr leistungsfähigen Computer in der Hand halten. Sie sind besser als jene, die zur Mondfahrt 1969 gebraucht wurden. Eine Revolution fürs Lesen und Schreiben.
Jeder Fünfzehnjährige, der am Pisa-Test teilnimmt, besitzt nicht nur ein Smartphone, er kann es auch virtuos bedienen. Für die Jugend, und weit darüber hinaus für die übrige Menschheit, ist das Handy ein Teil des Lebens geworden. Ein stetiger Begleiter, der uns die Möglichkeit gibt, immer und überall, zu jeder Tages- und Nachtzeit, erreichbar zu sein. Und uns auch die Gelegenheit gibt, sich über alles was, wir wissen wollen, zu informieren. Für uns ist ein Leben ohne Handy unvorstellbar. Damit verändert sich vieles im Leben des Menschengeschlechts. Das beste Lexikon der Welt ist immer griffbereit. Warum noch Auswendiglernen? Alle Informationen, die man haben will, sind greifbar. Momentane Unkenntnis wird durch eine Frage an Google aufgehoben.
Vor zwanzig Jahren war das nur Science-Fiction, unvorstellbar, nur in den Köpfen findiger Schriftsteller angesiedelt. Heute ist es Realität. Diese technischen Begleiter, sie haben unser Denken und Arbeiten grundlegend verändert. Da entbehrt es nicht einer gewissen Logik, dass die Schweizer Jugend schlecht lesen kann. Für ausführlich geschriebene Texte ist das noch verzeihbar. Das Bildungsbürgertum war gestern.
Schlimmer ist, dass sie das Gelesene kaum verstehen. Gibt zu denken. Verbesserung ist angesagt und wird auch in Angriff genommen.
Die gute Nachricht:
Es besteht noch Hoffnung, die Scharte auszuwetzen
Bis die Resultate vorliegen, können wir uns damit trösten, dass wir in Mathematik und Naturwissenschaften nach PISA zu den Besten gehören.
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