Als ich mein Geld für mein Studium als Chemielehrer an der Gewerbeschule verdiente, erklärte mir ein Kollege im Lehrerzimmer die Idee, die hinter den Biorhythmen steht. Er war ein überzeugter Anhänger dieser Lehre und trug sogar eine Armbanduhr, die ihm stets anzeigte, wie seine Rhythmen standen. Seither liess mich diese Technik der Kunst der Voraussage nicht mehr los.
Es handelt sich dabei um die Vermutung, dass es drei Sorten von wiederkehrenden Regelmässigkeiten im Menschenleben gibt. Biologische Rhythmen. Einen körperlichen von 23 Tagen, einen emotionalen von 28 Tagen und einen geistigen von 33 Tagen. Bei der Geburt starten alle drei, wellenartig einer Sinuskurve folgend. Dann geht es los für’s ganze Leben. Ein stetiges auf und ab. Auf die positive Phase folgt die Negative. Die Übergänge von positiv zu negativ und umgekehrt sollen potenziell «schlechte Tage» sein. Ein Wiener Psychologe und ein Berliner Arzt haben anfangs des 20. Jahrhunderts diese Theorie entwickelt.
Der Kollege der Gewerbeschule hatte mir einen Floh ins Ohr gesetzt. Damals, ich war gerade 27 Jahre alt, gab es kein Internet und keine Wikipedia. In meinem Studium hatte ich gelernt, Tatsachen auf den Grund zu gehen. So war ich ein Dauergast in den verschiedensten wissenschaftlichen Bibliotheken und in der Museumsgesellschaft. Quasi im Nebenamt studierte ich die Theorie der Biorhythmen. In Gesprächen mit Kommilitonen wurde mir klar, das Thema war bekannt, nur wurde es sehr kritisch beleuchtet. Es gab zwei Parteien, die Befürworter und die Gegenpartei, wie so oft bei kontroversen Gegenständen.
- Alles Hokuspokus, wie soll ein solcher Rhythmus, der bei der Geburt beginnt, fehlerfrei, in festen Zeitabschnitten, lebenslang funktionieren?
- Das Wirken der Biorhythmen ist vielleicht nicht wissenschaftlich belegbar, trotzdem, es lohnt sich, sich nach ihnen zu richten.
- Natürlich, jeder hat mal bessere, produktivere Tage, die von anderen gefolgt werden, an denen nichts gelingt. Das kommt und geht. Steht aber in keiner chronologischen Gesetzmässigkeit.
- Wenn man seinen täglichen Arbeitsplan seiner inneren Uhr, seinen Biorhythmen anpasst, geht die Arbeit besser von der Hand.
- Der Biorhythmus ist nicht plausibel. Er widerspricht der Erkenntnis der biologischen Wissenschaft.
- Es gibt eine innere Uhr, und die läuft sehr genau.
- Es ist der gleiche Unsinn wie die Verwendung des Mondkalenders bei den Gartenarbeiten.
- Wie sollen Leistungsfähigkeit und Gemütszustand rhythmisch vom Tag der Geburt an verfolgbar sein?
So prallen die Meinungen aufeinander. Die Frage ist: «Ist etwas an dieser Theorie dran?» Viele Menschen ziehen daraus immerhin einen Nutzen.
Mir schien es durchaus plausibel, dass es beim Menschen so etwas wie eine innere Uhr gibt. Es ist nicht von der Hand zu weisen, das Leben ist getaktet. Es gibt Rhythmen, die periodisch wiederkehren. Tag und Nacht, Sommer und Winter, Vollmond und Neumond, Wachzeit und Schlaf, Ebbe und Flut. Es könnte doch sehr wohl sein, dass es Biorhythmen gibt.
Richtig los ging es bei mir, als ich einen elektronischen Taschenrechner kaufte. Er konnte meine Rhythmen im Nu ausrechnen. Seitdem richtete ich meine Arbeitsabläufe häufig nach dem Stand meiner inneren Uhr.
Die Theorie der Biorhythmen ist für mich kein Religionsersatz. Ihre Auswirkungen und Zusammenhänge habe ich stets mit einem Augenzwinkern interpretiert. Cum grano salis. Mit einem Körnchen Verstand, nicht völlig unkritisch eben.
Trotzdem legte ich wichtige Besprechungen und heikle Verhandlungen nach Möglichkeit immer auf «gute» Tage. Nicht immer lief alles reibungslos. Wenn mir wieder einmal ein richtiger Flop passiert war, konnte es sein, dass ich den Anweisungen meiner Rhythmen nicht gefolgt war. Oder ich hatte vergessen, die Arbeit zeitlich auf den Biorhythmus einzustellen.
In den ersten Jahrzehnten meines Lebens hielt ich mein biorhythmisches Verhalten streng geheim. Niemand wusste von meinem Beobachten der Rhythmen. Nachdem ich aus dem Erwerbsleben ausgestiegen war, begann ich mein Geheimnis zu lüften. Positive und negative Resultate gab ich zum Besten. Dabei erntete ich im günstigsten Fall ein verständnisvolles Lächeln, meistens aber prasselten die alten Vorbehalte auf mich zu. Mir blieb nichts als ein überhebliches Lächeln.
Über viele Dezennien lebte ich bewusst in Kenntnis meines momentanen Biorhythmus. Fern von Sturheit oder fanatischem Glauben. Für mich war da schon etwas dran.
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