Ich liebe Suppe. Egal ob Wein-, Käse-, Mehl- oder Kartoffelsuppe. An heissen Sommertagen ist auch die kalte Variante willkommen. Gurkensuppe, Gazpacho oder Vichyssoise. Seit meiner letzten Kolumne über die Kochkunst stehe ich mehr am Herd. Immer wieder holt mich die Lust zu Experimenten ein. Mal sehen, ob ich es wieder zur Meisterschaft bringe. Diesmal geht es um eine mir noch unbekannte türkische Yoghurtsuppe.
Wir sassen zu dritt beim Bier. Seit dem Shutdown der erste Besuch in einer Wirtsstube. Mehr als ein Jahr ist verflossen. Jetzt ist es wieder möglich, mit Gleichgesinnten am Biertisch zu plauschen. Einer meiner Freunde schwärmte von dieser Vorspeise, der türkischen Yoghurtsuppe. Das weckte mein Interesse.
Im Nu fand ich im Netz eine Handvoll Rezepte. Joghurt ist nicht unbedingt meine Leibspeise. Mir geht es ums Experiment. Ob sie es glauben oder nicht für diese türkische Suppe braucht man griechischen Joghurt! So stand ich im Supermarkt vor dem Regal der Milchprodukte. Meterweise nichts wie Joghurt: entrahmter, fettarmer, Rahmjoghurt. Joghurt mit Beeren, Bananen, Kiwi und anderen Früchten. Joghurt mit Fruchtgeschmack. Joghurt für Veganer, Trinkyoghurt. Nur kein griechischer Joghurt. Den, welchen ich für meine Suppe bräuchte. Griechischer Joghurt Natur; nirgends zu finden.
Magermilchjoghurt ist ein Wort mit allen fünf Vokalen in der richtigen Reihenfolge, a-e-i-o-u. Solcher Blödsinn kommt einem in den Sinn, wenn man verzweifelt vor 50 verschiedene Varianten dieses Milchproduktes steht und das Benötigte nicht findet.
Mein Blick schweift durch das ganze Kaufhaus. Auf der Suche nach professioneller Hilfe. Weit und breit keine Bedienung. Endlich, wie durch Eingebung. Dort, zuhinterst im Regal, steht ein bescheidener Plastikbecher mit einem Alu-Deckel Γιαούρτι Ελλάδας, mein griechischer Jogurt. In der Vielfalt der Menge wurde das Gewünschte doch noch gefunden.
Auf dem Weg zur Kasse begegne ich der Brotabteilung. Eine Broschüre des Verbands schweizerischer Müller liegt zum Mitnehmen auf. Die verschiedensten Getreidesorten, Weizen, Roggen, Gerste, Hafer, sogar Hirse und Mais sind abgebildet und beschrieben. Mit Begeisterung stellen die Müller die Vielfalt ihrer Produkte vor. Stolz steht da zu lesen: «In der Schweiz gibt es mehr als 300 Brotsorten.»
Mit allen meinen Zutaten zur Herstellung der Joghurtsuppe, sitze ich entspannt im Auto auf dem Nachhauseweg. Auf der Forchstrasse empfangen mich viele andere Autos. Der klassische Feierabendstau. Soweit das Auge reicht, nur Automobile. Vor mir ein SUV. Hinter mir ein SUV («Sport Utility Vehicles»). Das sind diese Geländelimousinen, diese Stadtgeländewagen. Der Inbegriff für zu viel. Sie sind zu gross, zu schwer, zu breit, zu kompliziert in der Bedienung mit einem 2,7 Liter Motor, 325 PS und einem Verbrauch von 18 Litern auf 100 Kilometer! Braucht es wirklich einen Geländewagen, um bei Aldi Gemüse einzukaufen? Soll doch keiner kommen und behaupten, die hätten alle eine Ferienwohnung zuhinterst im Lötschental oder im Schanfigg.
Draussen nahm der Wind Fahrt auf. Im Garten werden Büsche und Bäume durchgeschüttelt. Totes Holz fliegt durch die Luft. Abgerissene Blüten und Blätter wirbeln am Fenster vorbei. Eben habe ich, wohlig geschützt vor dem Wüten der Natur, in meinem Lieblingsstuhl meine Pfeife angezündet. Die 50 Joghurtarten lassen mich nicht los. Für mich das Abbild, die Verbildlichung der Entwicklung unseres heutigen Wohlstandsstandards. In meiner Jugend gab es drei Brotsorten: Dunkles, Halbweisses und am Sonntag Zopf. Höchstens vier Sorten Joghurt kannte ich damals. Ein Auto zu besitzen war der sehnlichste Wunsch eines jeden Erwachsenen. Ferien im Ausland, davon konnte man nur träumen.
Dicke Regentropfen klopfen ans Fenster. In der Ferne Blitze und Donnerrollen ohne Unterbruch. Das Gewitter kommt näher. Der Regen wird zum Wolkenbruch. Zusammen mit Hagelkörnern stürzen gewaltige Wassermassen aus dem schwarzen Himmel. Der Garten wird in ein Schlachtfeld verwandelt. Meine Pfeife ist längst erloschen. Es brauchte keine Viertelstunde, um den friedlichen Feierabend in einen Ort der Verdammnis umzuwandeln.
Dieser Wetterumschlag könnte als Gleichnis für die Veränderung unserer Gesellschaft in den letzten 70 Jahren dienen.
Die Wohnbevölkerung hat sich fast verdoppelt. Heute leben 8,6 Millionen Menschen in der Schweiz. Jeder, der arbeiten will, findet einen Job. Wesentlich mehr Freizeit und auch mehr Geld stehen zur Verfügung. Nahezu alle Wünsche können erfüllt werden. Wir sind nicht mehr weit vom Schlaraffenland entfernt.
Plötzlich, unvermittelt, unangemeldet steht COVID 19 vor der Tür, erzwingt sich Eintritt und tritt auf die Bremse. Das ganze Wohlergehen im Paradies schien zusammenzubrechen. Über Nacht werden wir eingeschränkt. In der Stammbeiz kein Abendessen mehr. Kein Kinobesuch. Fussball wird vor leeren Tribünen gespielt. Die Pandemie hält uns den Spiegel vor. Der Staat übernimmt die Leitung. Die Regierung, von den Folgen der Lage überrumpelt, muss die Verantwortung und die Leitung übernehmen. Führung in der Krise? Noch nie erlebt! Nicht die geringste Erfahrung, wie das geht! Verständlich, dass am Anfang nicht alles so lief, wie wir es bisher gewohnt waren. Alle waren in dieser neuen Lage überfordert. Der bekannte Alltag wird fühlbar eingeschränkt. Das schöne Dasein mit seinen Bequemlichkeiten ist keine Selbstverständlichkeit mehr.
Dafür haben wir auf einmal mehr Freizeit. Zeit zum Nachdenken. Nachdenken, wie wir die bestehende Situation meistern werden. Nachdenken auch, wie wohl das Leben nach der Pandemie aussehen wird. Wir haben mit dem hohen Lebensstandard viele Annehmlichkeiten geschaffen. Wir haben damit auch viele Ressourcen unseres Planeten über Gebühr strapaziert. Luft, Wasser, fossil hergestellter Strom werden bedenkenlos konsumiert, und sehr viel Abfall wird produziert. Das Verhältnis zwischen Ressourcenschaffung und Ressourcenverbrauch ist aus dem Gleichgewicht geraten.
In den letzten 14 Monaten ist uns bewusst geworden, ein neuer Lebensweg muss begangen werden. Auf diese neue Lebensform müssen wir uns einrichten. Der Boxenstopp der Pandemie führt es uns vor Augen, etwas Elementares stimmt da nicht. Vor der Krise sind wir mit unserer Lebensgestaltung an Grenzen gestossen. Und plötzlich wurde uns vorgeführt, dass wir nicht nur am Limit angekommen sind, sondern wir die Begrenzungen überschritten haben. Die Überlastung des Planeten muss rückgängig gemacht werden. Es gibt praktikable Lösungen für dieses Erdüberlastungsproblem. Der Mensch und sein Erfindergeist haben bisher die Kapazität der Erde immer weiterentwickelt. Diese Kreativität können wir in der jetzigen Lage nützen. Die gute Nachricht, wir können etwas dafür tun. Wir haben das Wissen. Wir haben die notwendige Technologie. Es macht sowohl gesellschaftlich wie wirtschaftlich Sinn! Voraussetzungen für einen geringeren und effizienteren Ressourcenverbrauch sind der technische Fortschritt und eine freiheitliche Wirtschaftsordnung.
Am Tage des Johannes, am 24. Juni kam es zum Durchbruch.Das Leuchten am Ende des Tunnels weckt Zuversicht. Weg von der Pandemie, zurück in die Normalität. Nur wird diese Normalität nicht mehr normal sein. Wir werden eine neue Epoche betreten.
Wie wird wohl diese Lebensgestaltung aussehen? Ich weiss es nicht. Ich kann mir höchstens Vorstellungen machen. Viele Änderungen werden uns zu einer neuen Lebensführung zwingen. Die Homeoffice-Erfahrung wird die Arbeitswelt verändern. Viele neue Berufe werden entstehen.
Der Mensch wird mit den neuen Lebensformen bestimmt fertig werden. Es wird viel Zeit und viel Geduld brauchen. Umbrüche zeichnen sich ab. Diese neue Welt wird viele Opportunitäten bieten. Um das Ziel zu erreichen, müssen wir von kurzfristig auf langfristig umschalten. Damit meine ich Vertrauen haben. Vertrauen in unseren Lebenswillen. Vertrauen auf unseren Erfindergeist. Vertrauen auf unseren Durchhaltewillen. Den Glauben, dass wir es können, nicht verlieren. Das Schlimmste ist vorbei. Jetzt heisst es anpacken! Bis 2050 könnte etwas ganz Neues entstanden sein.
Der Blick durchs Fenster zeigt den nächsten Wetterumschlag an. Das Gewitter hat aufgegeben. Der Regen ist weitergezogen. Ein wunderschöner Regenbogen beugt sich über unsere Gemeinde. Ein solches Schauspiel der Natur habe ich schon lange nicht mehr gesehen. Morgen muss der Garten aufgeräumt werden.
In der Mitte des Jahrhunderts wird eine nächste Generation am Ruder sein. Sie ist in diesem neuen Umfeld geboren und wird das Leben mit den dann zur Verfügung stehenden Mitteln in Angriff nehmen. Sie werden mühelos mit den neuen Begebenheiten fertig werden.
Und ich muss mit meiner Suppe fertig werden.
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