MMXV
Im Anschluss an die vorhergehende Kolumne „Vigesimalsystem“ von Hans Rhyn, ergibt die Betrachtung des Zahlensystems der Römer in der Antike eine interessante Ergänzung.
Uns allen sind römischen Zahlen bekannt. Sie erscheinen als Angaben eines Baujahrs auf ältere Gebäuden. Oft werden sie auch bei der Nummerierung von Vorworte in einem Buch verwendet, um diesen Textteil vom eigentlichen Schriftstück, welches meistens mit arabischen Zahlen nummeriert wird, zu unterscheiden.
Die römische Zahlenschrift folgt einem Additionssystem. Die Zahlen werden durch Aneinanderreihen von Zahlenzeichen gebildet. [MMXV=2015, entsteht als 1000+1000+10+5]. Für praktische Rechenzwecke, wie die Grundrechenarten oder jegliche Art von schriftlichen Berechnungen, war das römische Zahlensystem jedoch völlig ungeeignet. Man bediente sich für Rechenoperationen gewöhnlich des Abakus, eines mechanischen Rechenbretts. Somit waren nicht nur Ingenieure und Techniker, sondern auch Kaufleute, Handwerker und Marktverkäufer in der Lage, elementare Berechnungen auf bequeme Weise durchzuführen. Das genügte für den Alltag.
Die römische Kultur brachte hervorragende Ingenieurleistungen hervor. Die Römer waren nicht nur gute Organisatoren ihres Staatssystems, sie waren auch technisch erstklassig begabte Handwerker. Die heute noch bestehende Bauwerken im Hoch- und Tiefbau zeugen davon. Ihre Bauten waren so genau und so solide gebaut, dass man Teile davon heute noch bewundern kann.
Mir ist das letztes Jahr so ergangen, als ich im Süden Frankreichs, vor dem „Pont du Gard“ stand. Er war ein Teil einer 50 Kilometer langen Wasserleitung, mit dem sauberes Quellwasser von Uzès zur damals römischen Stadt Nemausus (Nîmes) transportiert wurde. Was für ein technisches Meisterwerk! Die Brücke ist 2200 Jahre alt, wurde von den Römern gebaut und steht heute noch. Etwa 20.000 Kubikmeter Wasser flossen nach der Fertigstellung täglich über den Aquädukt nach Nemausus, das zu der Zeit etwa 20.000 Einwohner beherbergte. Demnach stand theoretisch täglich jedem Einwohner ein Kubikmeter, sprich tausend Liter, Wasser zur Verfügung. Das ist fünfmal mehr als heute in Europa pro Kopf und Tag verbraucht wird. Dem Bau der Aquädukte setzten auch in der Antike eine präzise Planung, eine genaue Vermessung und eine exakte Berechnung voraus. Ich kann mir nicht vorstellen, dass dies meine Ingenieurkollegen von damals mit dem römischen Zahlensystem bewältigen konnten.
Der Umgang mit römischen Zahlen ist nicht leicht. Beispielsweise wird die Bedeutung von MMMCDXLIIII erst deutlich, wenn man in Gedanken Klammern einführt, sodass (MMM)(CD)(XL)(IIII) in unsere Schreibweise, dem Stellenwertsystem, 3000+400+40+4=3444 entspricht. Versuchen wird doch einmal die Summe MMMCDXLIIII + CCCXCCIIII zu berechnen. Ein in dieser Kunst geübter Römer hatte vermutlich seine Tricks, doch für uns wird es schwierig, um nicht zu sagen unmöglich, die richtige Antwort zu finden. Wandeln wir die römischen Zahlen zuerst in das uns bekannte und in der Schule gelernte Dezimalsystem um. Führen dann die Rechenoperation durch. Das Ergebnis wieder zurück in die römische Schreibweise:
3444 → MMMCDXLIIII
+394 → CCCXCIIII
=3838→ MMMDCCCXXXVIII
Die Multiplikation zweier Zahlen ist noch schwieriger und dürfte selbst für den geübten Römer in dem ursprünglichen System unmöglich gewesen sein. Warum ist das Rechnen im römischen System so schwierig? Um diese Frage zu beantworten müssen wir kurz die beiden Systeme miteinander vergleichen.
Die ausgeklügelte Dezimalschreibweise, die wir heute verwenden, enthält neun Zeichen von eins bis neun und die Null. Die Null ist wichtig. Sie erlaubt zwei Voraussetzungen: den Zehnerübergang und das Stellenwertsystem. So lassen sich sehr kleine wie auch sehr grosse Zahlen einfach schreiben. Es lassen sich deshalb im Dezimalsystem leicht Berechnungen anstellen. Die römische Schreibweise hingegen benötigt 14 Zeichen [I, V, X, C, D, M… etc.] und sie basiert auch auf die Einheit zehn. Aber sie kennt die Null nicht und damit fehlt ihr die Möglichkeit der eleganten Darstellung des Zehnerübergangs. Ein grosser Nachteil, der bei komplizierten Rechenoperationen sichtbar wird. Es ist wohl anzunehmen – Hans Rhyn hat es in seinem Artikel schon erwähnt – die römischen Baumeister haben das Dezimalsystem gekannt und es für die Berechnung ihrer Konstruktionen auch verwendet. Für den Bau von Aquädukte musste der Geometer in der Lage sein Winkel, Steigungen und Gefälle messtechnisch zu bestimmen. Mit den Messresultaten musste er Berechnungen anstellen. Bestimmt nicht in der Verwendung der römischen Schreibweise. Dies, weil sie die Null nicht kannten. Man kann die Einführung der Null mit der Einführung des Kommas in der Sprache vergleichen – in beiden Fällen geht es darum, die richtige Bedeutung zu lesen. Ebenso wie es Regeln für den Gebrauch des Kommas gibt, bedarf der Regeln für den Umgang mit der Null! So entstand der Unterschied zwischen 85 und 805. Dies nur als Beispiel. Das Leben im Römischen Reich, welches sich durch eine einheitliche Rechtsordnung, einer effizienten Verwaltung und eine reiche, durch eine geniale Grammatik gestützte Literatur, auszeichnet ist, wurde uns schriftlich überliefert. Hingegen verzichteten die Römer darauf, die Dokumente, Pläne und Berechnungen der Technik und der Ingenieurskunst aufzubewahren. Die Notizen der Baumeister der Antike sind verloren gegangen. Man mass ihnen keine Bedeutung zu. Die technischen Anlagen und Bauwerke hatten eine sehr lange Lebensdauer. Sie waren vorhanden. Sie standen sichtbar da. Die Pläne wurden zu Makulatur. Grosses Pech für alle jene, die sich für die Technikgeschichte der Antike interessieren. Zurück zum Pont du Gard. Über 2000 Jahre schon steht er da. Solide und majestätisch, von einer schlichten Schönheit. Ich stehe daneben, als kleiner Ingenieur, der Bewunderung voll. Es kann einfach nicht sein. Eine solche elegante Statik, eine solche Präzision: Die Römer mussten neben der Verwendung von römischen Zahlen mit dem Dezimalsystem für ihre Mathematik vertraut gewesen sein. Nur so konnten sie die Berechnungen anstellen, welche nötig waren, um solch komplexe Bauwerke zu erstellen. Die Römer sind Meister im Festhalten ihrer kulturellen Leistungen. Für die Philosophie und die Literatur standen ihnen die Schrift zur Verfügung. Für die Technik zeugt die Qualität ihrer Baukunst. In der heutigen Sprache: Die Güter des täglichen Gebrauchs dienten als Hardware, die Literatur als Software. Das Römische Reich breitete sich damit in weiten Gebieten Europas aus und bildete, nach dessen Untergang, das Fundament für die christliche Kultur und für unseren heutigen Wohlstand.
Spuren davon finden wir heute noch auf den Zifferblättern grosser Uhren und als Gründungsdaten auf ältere Gebäuden.
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