Das Hemd war hin! Ebenso die gelbe Krawatte! Was war geschehen?
Wir sassen zu fünft, meine Eltern, mein Bruder, Doris und ich beim Abendessen im Restaurant des Hotel Storchen an der Limmat in Zürich. Papa hatte eingeladen. Es gab zu feiern. Ich hatte meine Doktorprüfung an der ETH bestanden. Papa wollte seine Dankbarkeit ausdrücken. Im grossen Stil. Im Storchen verkehrt die Hautevolee von Zürich.
Fein gekleidet und sauber heraus geputzt sassen wir zum Aperitif in der Bar. Bei gepflegter Klaviermusik liessen wir den Abend anklingen. Im Restaurant im ersten Stock stand am Fenster mit Blick auf den Fluss ein Fünfertisch für uns bereit. Mama war richtig in ihrem Element. Sie liebte es in eleganter Umgebung zu verkehren. Doris liess sich gerne zu einem guten Abendessen einladen. Für mich war es ein schöner Anlass, nachdem ich eine grosse Last losgeworden war: Vier Jahre im Poly an einer Diss kochen. Die Zeitspanne war abgeschlossen. Mein Bruder gefiel sich, im Windschatten seines Bruders zu einem guten Essen zu kommen. Vater, der geborene Gastgeber, war in seinen ehemaligen Beruf, den galanten Hotelier zurückgekehrt. Er hatte alles organisiert. Sicher waren die Eltern stolzer als ich. Einen «Herr Doktor» in der Familie zu haben, hat nicht jedermann. Im Grunde war ich froh die Hürde genommen zu haben. Die Feierlichkeiten fanden an einem schönen Sommerabend des Jahres 1964 in der Zürcher Altstadt statt. Dort passierte das oben beschriebene Unmögliche.
Die Küche des Hotels galt als Beste der Stadt. Die Speisekarte glich der Abschrift einer Seminararbeit auf Französisch. Was versteckte sich hinter diesen Begriffen? «Salade Alfredo, sur son lit de Balsamico». Mein Vater gab, zusammen mit dem Chef de Service Kommentare zum Besten. Es ist fein geschnittener Eisbergsalat, garniert mit harten Eiern, Kapern, Sardellen und kleinen runden Tomaten aus Italien. Eine Augenweide, die mit einem besonderen Essig aus Modena, der norditalienischen Universitätsstadt in der Emilia-Romagna, gewürzt war. In Wahrheit war es eine braune, süssliche, klebrige Sauce von einem eigenartigen Geschmack. Was da auf dem Teller lag war ein grafisches Kunstwerk. Grün, rot und gelb waren die dominierenden Farben. Wir wagten es, das Bild zu zerstören. Den Salat zu essen. Mit den italienischen Tomätchen hatte ich Mühe. Sie gesittet mit Messer und Gabel in den Mund zu führen wurde zum Kunststück. Die Dinger benahmen sich quirlig widerspenstig. Die Tomaten waren zu gross um ungeschnitten auf der Gabel liegen zu bleiben. Sie mussten zerkleinert werden. Das war nicht so einfach wie es tönt. Die verflixten Kügelchen rutschten zur Seite, als ich sie mit der Gabel aufpicken wollte, um sie mit dem Messer zu zerschneiden. Dann die Explosion! Die Tomate war nicht nur zerschnitten, sie hatte ihren Inhalt über die gesamte gedeckte Tafel, auf mein Hemd und meine Krawatte mit roter und brauner Farbe verkleckert. Das Kleidungsstück war hin. Die festliche Stimmung auch. Ich wäre besser bei der Prüfung durchgefallen.
Das geschah zurzeit als die Industrie Fremdarbeiter brauchte, um die Schweiz vollzubauen. Ihr Status verwandelte sich mit der Zeit in Gastarbeiter. Ihre Familien, die meisten stammten aus Italien, zogen nach. Damit krempelte sich die helvetische Gesellschaft um. Weitere Bürger aus der Mittelmeerregion zogen nach. Am sichtbarste wurde das am Wochenmarkt in Oerlikon. Nicht nur wurde italienisch, spanisch und portugiesisch gesprochen, das gesamte Warenangebot auf dem Markt zeigte sich in einem neuen Kleid. Neben den üblichen Schweizerprodukten wie Kartoffeln, Kohl, Schwarzwurzeln und Salat betraten gelbe, grüne und rote Peperoni, ein neues Käsesortiment mit Trauben, Orangen, Tomaten in allen Farben und die Grapefruit die Bühne. Italienisch wurde neben Züritüütsch zur Handelssprache vor und hinter den Marktständen. In den Restaurants veränderten sich die Speisekarten. Die Pizza wurde salonfähig. Spaghetti-Bolognese wurde zum Tages Hit. Teigwaren mit der Sauce aus der Stadt, aus der die Revolution des Hochschulunterrichts ihren Höhepunkt erreichen sollte. Auch der beliebte Rotweinessig bekam Konkurrenz. Aceto Balsamico war auf einmal zu vernünftigen Preisen zu haben. Aceto Balsamico, diese klebrige Ware die meine Krawatte vernichtete! Der Storchen, der mit Klecksen besäte Esstisch, die geplatzte Doktorfeier, alles erschien aufs Neue vor meinem geistigen Auge.
Aus Modena stammte der Essig. In der Blütezeit der Renaissance entstand diese Kostbarkeit in den Küchen der adligen Gesellschaft. Damals ein Luxusprodukt wie Safran oder Pfeffer. Aceto braucht eine Reifezeit von 20 Jahren. Er wurde in einer festgelegten Reihenfolge von Holzfässern aus Kirschen-, Eichen-, Kastanien- und Maulbeerholz eingedickt und aufgepäppelt. Entsprechend war er kostbar. Aus 200 Liter Saft der Lambrusco-Traube entsteht über die Jahre rund 200 Milliliter Aceto. Das war das teuerste Gewürz auf dem Speiseplan der Borgias und Sforzas. Für den Bürger nicht bezahlbar. Im Zuge der Internationalisierung der Märkte und der Industrialisierung der Produktion kommt heute dieser Essig überall auf den Markt. Immer noch zu einem beachtlichen Preis. Für den bürgerlichen Haushalt zwar ein Luxus. Aber immer noch erschwinglich.
Ein gutes Beispiel für den Strukturwandel. Zuhause gab es Hausmannskost: Hörnli und Ghackts, Ravioli aus der Büchse, Gerberkäse. In den Restaurants war die französische Küche Trumpf, «La cuisine au beurre». Den Krämer um die Ecke, bei dem man alles was man zum Leben brauchte erstehen konnte, gibt es nicht mehr. Er wurde vom Supermarkt abgelöst. Da verführt ein enormes Angebot von Erzeugnissen. Zwölf verschiedene Sorten von Shampoos, ein Regal voll Katzenfutter, mindestens 20 verschiedene Biersorten. Beim Brot ist der grösste Wandel sichtbar. Heute gibt es in der Schweiz über 300 Brotsorten. Urdinkel, Abendbrot, Malzbrot, Parisette, St. Gallerbrot, Tessinerbrot, Halbweissbrot, Ruchbrot, Vollkornbrot, Zopf und Holzofenbrot.
Könnte es sein, dass bei der Artikelvielfalt ein Grenzwert erreicht wurde? Hat sich da etwas abgespielt wie beim Turmbau zu Babel? Der Bau eines unendlich hohen Turms war der Versuch des Menschen Gott gleichzukommen. Dieser bringt den Bau zu Stillstand. Er schafft eine Sprachverwirrung. Unüberwindbare Verständigungsschwierigkeiten zwingen zur Aufgabe des Projekts. Eine wunderschöne Metapher um ein Unternehmen unblutig abzuklemmen. Ist der Coronavirus Covis-19 mit dem Lockdown über Monate ein Versuch die übertriebene Leerlaufdynamik unserer Volkswirtschaft zu stoppen?
Es geht mit weniger.
Weniger Produkteauswahl. Weniger Reisen. Weniger Lohn. Dafür mehr Zeit. Mehr Zeit für zwischenmenschliche Kontakte. Mehr Zeit für Muse. Mehr Zeit, um etwas zu tun, wofür man vorher keine Zeit hatte.
Wäre das nicht Balsam für die Seele? Balsam, der Sammelbegriff für Wohlgeruch und Gelassenheit?
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