Superlative

Auch wenn man wie ich keine News liest und die Nachrichtenblätter trotzdem durchstöbert, fällt eine deutliche Zunahme der Verwendung der Superlative auf. Da gibt es immer neue Wortbildungen. Das lässt aufhorchen. Die Angehörigen der Schreibzunft wollen sich in der Erfindung von Super-Superlativen überbieten. Es scheint da ein Wettrennen, ein Wettbewerb im Gange zu sein.
Vor 70 Jahren startete die SRG die ersten Fernsehsendungen. Schwarz/weiss; an fünf Abenden ein rund einstündiges Programm. Damals eine Sensation. Kino in der warmen Stube! Bis anhin gab es keine bewegten Bilder. Nur Radio Beromünster. Die Nachrichten der schweizerischen Depeschenagentur deckten das Informationsbedürfnis der fünfziger Jahre ab. Dazu kamen noch ein paar brave Tageszeitungen wie die Neue Zürcher Zeitung. Sie war bis in die siebziger Jahre stolz darauf, ohne Bilder und Fotos auszukommen. Nur lange Artikel und Meldungen. Das genügte als Informationsquelle für den Alltag. Für Erwachsene von heute, mit Internet und Smartphone aufgewachsen, kaum zu glauben.

Dann geschah es. In den sechziger Jahren kam neues Leben in diese geruhsame Pressewelt. Mit unübersehbarem Getöse betrat der BLICK die Bühne. Drei Zentmeter hohe, fette, farbige Schlagzeilen. Fotos und Karikaturen im Grossformat. Prägnante Texte. Nur kurze Meldungen. Kein Satz durfte mehr als acht Wörter umfassen. «Pfui», schrie die Elite, «so darf man keine Zeitung machen!» Dieses Boulevardblatt, dieser Schund, musste boykottiert werden. Die Realität war das Gegenteil. Alle liebten den BLICK. Die Bekennenden in aller Öffentlichkeit. Der Rest im Geheimen. Der Zeitungsverkäufer am Hauptbahnhof hielt ein Pressesandwich feil. Eine NZZ mit im Innern unsichtbar versteckt «der BLICK». «Katze lief 400 Kilometer aus Heimweh!» war auf dem ersten Aushänger am Kiosk zu lesen. Eine neue Epoche der Newsindustrie war angebrochen. Der BLICK florierte. Er war noch kein Jahr alt, da brachte er die Jahrhundertnachricht heraus. Eine fotographische Sensation. Bis zu diesem Tag wusste die Menschheit nicht, wie die Hinterseite des Mondes aussah. Auch mit den raffiniertesten astronomischen Instrumenten war sie nicht ins Bild zu bekommen. Seit der Mensch auf Erden existierte, seit er denken konnte, war die Rückseite des Mondes das grosse Rätsel. Der Grund dafür war seit der Erfindung der Schrift bekannt. Unser Trabant zeigt uns bei seiner Reise auf seiner Laufbahn um die Erde sein Gesicht. Immer nur die Vorderseite. Was hinter dem Mond ist, ist unsichtbar, ist unbekannt. So war das nun Mal. Bis ein sowjetischer Satellit hinter dem Mond ein Foto schoss und der BLICK sie auf der Titelseite grossflächig präsentierte. Für mich ein bleibendes Erlebnis. Die Polybahn hatte mich am Central abgesetzt, da sah ich, was ein Mensch vorher noch nie gesehen hatte, die hintere Seite des Mondes, am Zeitungskiosk prangern.

Viel später erst wurde mir bewusst: das war ein historischer Meilenstein. Alle, die in der Zeit um 1959 auf der Erde waren, erlebten etwas, was man wirklich als einmalig bezeichnen muss. Vergleichbar vielleicht mit der Erfindung des Rades. Hier wäre der Superlativ «ein geschichtsschreibendes Ereignis» angebracht.
Die Nachrichtenübermittlung hat sich innerhalb der letzten 70 Jahren in eine gewinnorientierte Grossindustrie gewandelt. Damit ist es zu einem Überangebot an News gekommen. Ein Overkill im wahrsten Sinne des Wortes. Ohne Auswahl kommt man nicht aus. Und wer die Wahl hat, hat die Qual.
Für die Newsproduzenten stellt sich die Frage, wie kann ich die Aufmerksamkeit des Konsumenten auf mein Produkt lenken. Es geht nicht mehr nur mit gepflegtem Journalismus und zuverlässiger Information. Plötzlich gewinnen Einschaltquoten und Leserzahlen an Bedeutung. Wie kann man mit dem Text den Verwender zum Lesen bringen?
Die Redaktionen und ihre Journalisten kommen mit Superlativen daher und benutzen sie recht unbedarft. Supersommer, Horrorepidemie, historischer Wahlsieg, erdrutschartige Veränderung des Wetters, epochemachender CO2 -Ausstoss, geschichtsschreibende wissenschaftliche Erkenntnis, ultimative Aufführungspraxis. Aus einer Meldung einen Hype machen ist mega wichtig. Solche Wortschöpfungen beeindrucken uns kaum mehr. Im Grunde Prahlereien, die nach Interesse haschen.

Um sich Gehör zu verschaffen, bedient sich die Industrie immer schwerer Geschütze. Eines davon ist die Verwendung der Superlative. Zurück zur Rückseite des Mondes. Sie zu Gesicht zu bekommen, ist etwas ganz Besonderes. Hier ist es angebracht, die dritte Steigerungsform «ein geschichtsschreibendes Ereignis» zu verwenden. Die ganze Menschheit vorher hatte dieses Privileg nicht. Wenn heute im Leibblatt von einem «geschichtsschreibendem Fussballmatch» zu lesen ist, bleibt ein schaler Nachgeschmack von Übertreibung zurück.

Für mich heisst das, ich bleibe dabei. Ich meide die herrschende Newsüberflutung und halte mich an die Hintergrundberichtserstattung. Und hüte mich vor Superlativen.

 

Osterspaziergang

Vor dem Tor

 

Vom Eise befreit sind Strom und Bäche
durch des Frühlings holden belebenden Blick,
im Tale grünet Hoffnungsglück;
der alte Winter, in seiner Schwäche,
zog sich in rauhe Berge zurück.
Von dort her sendet er, fliehend, nur
ohnmächtige Schauer körnigen Eises
in Streifen über die grünende Flur.
Aber die Sonne duldet kein Weißes,
überall regt sich Bildung und Streben,
alles will sie mit Farben beleben;
doch an Blumen fehlt’s im Revier,
sie nimmt geputzte Menschen dafür.

 

O glücklich, wer noch hoffen kann,
Aus diesem Meer des Irrtums aufzutauchen!
Was man nicht weiß, das eben brauchte man,
Und was man weiß, kann man nicht brauchen.

Faust, der Tragödie erster Teil
Vers 903 – 915 & 1064 – 1069
Seite 51 & 56

 

 

 

 

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Ein Gedanke zu „Superlative“

  1. Lieber Hans

    Die Entwicklung geht unaufhaltbar weiter:
    – Videos und Ton auf digitalen Kanälen (YouTube, Ticktock, Instagram, Twitter, etc.) ersetzen das geschriebene Wort und das Foto
    – Der Konsum wird vereinfacht (Überall und immer & man muss nicht mehr lesen könen), eine “Pseudo-Unmittelbarkeit” erzeugt (“Breaking News” vor journalistisch geprüftem Inhalt) die jeden “Live” dabei lassen (Fake-News und “Deep-Fakes” lassen grüssen)
    – Googeln geht vor Wissen, “Likes” bestimmen die soziale Wichtigkeit von Information, die Massen lassen sich von den Algorithmen der Tech-Giganten besser lenken, als jede Partei und Politiker das könnte
    – und es gibt noch weitere Besipiele

    Der wesentliche Unterschied zu unserer Zeit ist, dass Information und Wissen immer eine Mangelware waren und man sich aktiv bemühen musste sie zu erhalten. Entsprechend haben wir uns darauf spezialisiert Informationen die wir für uns relevant hielten, effektiv zu erlangen.
    Heute ist es 180 Grad anders: Es gibt beliebig viel Informationen jeder Zeit und überall. Die Kunst ist heute in diesem Überfluss das Relevante herauszufiltern. Die ist für uns schwer und für die Jungen noch viel schwerer. Denn sie tun sich noch viel schwerer herauszufinden was wahr und richtig ist, weil ihnen die Lebenserfahrung dazu fehlt. Heute wird “Digital-Detox”(2 Wochen ohne Handy leben) einem Drogenentzug gleichgestellt.

    Ich wünsche Dir, bei einer guten Pfeife, viel Spass am Lesen von guter Berichterstattung!

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