Was steckt wohl hinter diesem Titel? Ich möchte Sie noch ein wenig auf die Folter spannen und im Jahr 10’000 vor unserer Geschichtszählung beginnen. Also ein kurzer Blick zurück in die Eiszeit.
Kleider
Seit etwa 10’000 Jahren bedecken die Menschen ihre Haut mit Kleidern aus Tuch. Textilien macht man aus Fasern. Diese musste man früher sorgfältig und mühsam zwischen den Fingern zu Garn zusammendrehen, das man zu Tuch verweben kann.
Wenn Sie nun einmal versuchen, eines Ihrer Kleidungsstücke zu einzelnen Fäden aufzuziehen, werden Sie erstaunt entdecken, dass sich die Gesamtlänge des Garns nach Kilometern bemisst. Das war auch im Altertum und frühen Mittelalter nicht anders.
Deshalb war man damals unzählige Stunden damit beschäftigt, aus Faserbündeln mit Hilfe der einfachen Spindel das Garn für ein einziges Kleidungsstück zusammenzuzwirbeln. Zweifellos eine langweilige Tätigkeit, bei der die Gedanken auf Phantasiereise gehen mussten, um nicht einzuschlafen.
Aber das Spinnen war derart lebensnotwendig, dass es hohe moralische, ja fast religiöse Bedeutung hatte:“Domui mansit, lanam fecit“ [verweile im Haus um Wolle zu machen] meisselte man sogar auf Grabsteine: Die römische Dame von Ruf blieb in ihren vier Wänden und spann Wolle.
Dies änderte sich erst allmählich – durch Einfluss aus China, wo um das Jahr 1000 n. Chr. das Spinnrad erfunden wurde. Aus dem Jahr 1050 datiert die erste uns bekannte Darstellung dieser einfachen handbetriebenen Maschine, die das Spinnen automatisierte. Sie beschleunigte die Garnherstellung um das Zehn- bis Hundertfache. Ihre Verbreitung in Europa führte deshalb um 1200 zu einem bemerkenswerten technologischen Durchbruch: Sie beseitigte den Engpass bei der Garnherstellung. Die längst verbreiteten Webstühle konnten besser genutzt werden. Erstmals konnten sich auch ärmere Menschen eine etwas reichlichere – weil entsprechend dem Zeitaufwand billiger herstellbare – Garderobe leisten.
Ein technologischer Engpass wurde durchbrochen.
Von der Spindel zum Spinnrad. Die Produktion wurde gesteigert. Es gab nicht nur mehr Tuch, es gab plötzlich auch mehr Abfall. In diesem Fall waren es Lumpen.
Heutige Technologen kämen angesichts solch eines Problems wahrscheinlich zu dem Schluss, man müsse ein Forschungsprogramm über die optimalen Möglichkeiten zur Lumpenbeseitigung starten. Recycling erscheine problemträchtig, denn man müsse die Garne umständlich aufdröseln, um wieder verwertbare Fasern zu erhalten. Verbrennen sei vielleicht doch besser, denn da gäbe es ausser Kohlendioxid nur säuberlich zu beseitigende Asche.
Im Mittelalter aber, geschah etwas ganz Anderes: Die sich häufenden Lumpen verarbeitete man zu Papier.
Papier
Papier war zuvor Mangelware gewesen. Die Produktion der sich entwickelnden Papier-Industrie – es waren einfache Papiermühlen – beseitigte einen weiteren technologischen Engpass:
Als ausreichend Papier zur Verfügung stand, brauchte man keine 100 Ziegen, Schafe oder Kälber mehr zu schlachten, um aus ihren Häuten das Pergament für eine einzige Bibel zu machen.
Jetzt also gab es Schreibflächen in bescheidenem Überfluss als relativ billiges Papier – das zunächst wiederum zu einem technologischen Engpass führte. Denn nunmehr war für die Buchherstellung nicht mehr das teure Pergament, sondern der Arbeitsaufwand der Schreiber entscheidend. Diese benötigten Wochen und Monate, um eine Buchkopie Buchstabe für Buchstabe auf die Schreibfläche zu malen.
Es erwies sich als wünschenswert, jetzt das Kopieren zu automatisieren. Die einfachste Möglichkeit hierzu war die Erfindung des Buchdrucks. Prompt wurde er auch erfunden.
Buchdruck
Er hat sich nicht aus dem luftleeren Raum entwickelt oder weil Gutenberg gerade zufällig eine geniale Idee hatte. Er hat sich entwickelt, weil sich ein Gesamtzustand eingestellt hatte, der nach Buchdruck verlangte. Diesen Ruf des Gesamtsystems nenne ich „historische Gelegenheit“. In diesem Fall war es die historische Gelegenheit für Buchdruck und alle damit zusammenhängenden Neuerungen.
Dies soll nicht die persönliche Leistung von Johannes Gutenberg schmälern. Ihm gelang es, die historische Gelegenheit zu nutzen. Hätte er aber zwei Jahrhunderte früher gelebt, so wäre seine Idee, ganze Buchseiten mit Hilfe wiederverwendbarer Lettern zu „stempeln“, sicherlich nicht auf Resonanz gestossen. Denn niemand hätte verstanden, wozu dies gut sein solle – sofern Gutenberg als praktischer Mann -solch einen Gedanken damals überhaupt schon verfolgt hätte.
Selbst solche offensichtlich dem freien Willen unterliegenden menschlichen Fähigkeiten wie die Entwicklung von Erfindungen und die Einführung von Neuerungen unterliegen den Beschränkungen und Regelmechanismen des gesellschaftlichen Systems. Unzählige, niemals anerkannte Erfinder endeten in Bitterkeit und Verzweiflung, letzten Endes nur, weil sie ihre Ideen zur Unzeit vorbrachten und nicht im Takt mit der historischen Gelegenheit.
Aus der Abfolge Spindel>Spinnrad>Papier>Buchdruck ergeben sich vier Erkenntnisse, welche bis in die heutige Zeit ihre Gültigkeit haben.
- Erkenntnis: Ein durchbrochener technologischer Engpass steigert die Produktion und erzeugt mehr Abfall.
- Erkenntnis: Eine Innovation kann nur erfolgreich werden, wenn das Gesamtsystem danach verlangt. 3. Erkenntnis: Die Einführung von Neuerungen unterliegt den Beschränkungen und Regelmechanismen des gesellschaftlichen Systems.
- Erkenntnis: Vorhandenes wird durch Besseres verdrängt.
Wenn die Zeit nicht reif ist, wenn das Zeitfenster nicht offensteht, wenn die Gesamtheit nicht darnach verlangt, wird die eleganteste Erfindung zu nichts. Sie wird wirkungslos verpuffen.
Heute nennen wir das einen Flopp.
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