Primus

Robert hiess er, der Liebling aller Lehrer. Er war der Vorzugsschüler der Klasse. Das war am Schluss der Hälfte des letzten Jahrhunderts, damals im Gymnasium der Kantonschule Luzern. Wer eine Matura machen wollte musste da durch. Der Primus und auch ich waren so um 15 Jahren alt. Zu der Zeit war es für mich und für meine Lehrer, gar nicht so sicher, dass ich dieses hehre Ziel je erreichen würde. Eigentlich war es für mich gleichgültig, wie die Lehrer mich qualifizierten. Ein Klassenbester würde ich ohnehin nie. Meine Noten bewegten sich im besten Fall um die Vier. Viereinhalb wäre für mich schon eher die Ausnahme. Oft lag die Beurteilung darunter. Unter der Gürtellinie, wie wir uns ausdrückten. Was heisst mein Dasein im Gymi war ein steter Kampf ums Überleben. Ein Bemühen darum, den Dozenten zu gefallen, wäre vergebene Liebensmühe gewesen. Einen Ausnahmenfall gab es. Meine Aufsätze wurden, als Muster einer guten Geschichte, der Klasse vorgelesen. Sie wimmelten zwar von Schreib- und Kommafehlern, der Lehrer aber war trotzdem von der Erzählung angetan. Er war wahrscheinlich der Einzige, der mich nicht aufgab. Der Primus blieb der Primus.
Im Zeichenunterricht war seine Stellung gefährdet. Unser Zeichenlehrer, ein ehemaliger Hellebardier der Schweizergarde, war ein guter Graphiker und ein eben so schlechter Pädagoge. St. Niklaus war das Thema. Fasst alle lieferten Bilder von Chläuse und Schmutzlis. Nichts besonderes. Mit Ausnahme Anton: Anton hatte ein grosses Buch gezeichnet, man sah gerade noch zwei Hände eines alten Mannes und unten für die Perspektive völlig falsch, ein kleines Mädchen, welches besorgt nach oben schaute. Genial wie Anton die Szene aus der Sicht des Kindes aufs Blatt zauberte. Ausser Anton und ich fand niemand die Zeichnung getroffen. Der Lehrer schon gar nicht. Wer nicht wie ein Roboter dasjene zeichnete, was sich der Lehrer vorgestellt hatte, fiel durch die Maschen. Die Stellung des Primus war gerettet.
Das Leben im Alltag der Familie von Robert war geregelt wie es sich gehört, vorbildlich langweilig, angepasst, stromlinienförmig dem eidgenössischen Durchschnitt ergeben. Im Stillen bewunderte ich sein Umfeld. Es gab Momente da wollte ich in einer solchen Sozietät aufgehoben sein, Wie anders war das bei uns. Von Langeweile keine Spur. Eine endlose Kette von Überraschungen verbanden die Ereignisse des Tages. Von Struktur keine Spur. Am Freitag war Sonntag. Das war der freie Tag meines Vaters. Nicht wie richtige Väter, die am Sonntag Zeit für uns Jungen hatten. Sonntag war in seinem Beruf als Hotelier Grosskampftag. Am Freitag war er in seinem Element. Er liebte es in der Küche zu wirtschaften, um etwas Besonderes zu kochen. Es gab das beste Essen der Woche. Weihnachten feierten wir immer am 21. Dezember, dann war er noch für Christbaum und Geschenke zu haben. Gleich anschliessend schloss sich die Zeit der Jahresendfeierlichkeiten an. Dann war sein Einsatz voll in seinem Beruf gefragt. Von Zuhause erhielt ich keine Vorgaben, die es braucht, angepasst durch Gymnasium zu steuern. Ich hangelte mich von Fach zu Fach. In Französisch machte ich Mathematik, in der Geografie schrieb ich den Aufsatz, den Hausaufsatz, für den ich zwei Wochen Zeit gehabt hätte, in letzter Minute. Es war ein regelrechtes Trainingslager in Zeitmanagement. Eine Tugend die mir später im Beruf sehr zu Pass kam. In der Zeit der Mittelschule war ich ein richtiger, intellektueller Vagabund, Mit dem Wunsche so zu sein wie der Klassenchampion, war es vorbei. Es entstand eine Abscheuliebe. Einerseits wäre es immer noch verlockend von dem Lehrpersonal mindestens geachtet zu werden. Anderseits sollte man keine unerreichbare Ziele anstreben.
Meine Talente waren anders gelagert. Für mich gäbe es auch noch eine praktische Welt ausserhalb der Kanti.

Jahrzehnte Später.
Alle damaligen Gymi-Studis hatten sich in die unterschiedlichsten Richtungen entwickelt. Emil war eine echte Koryphäe in der akademischen Welt geworden. Er ist heute Ordinarius für theoretische Physik und arbeitet eng mit der NASA zusammen. In der Mittelschule gehörte er eher, wie ich auch, zur Liga der Nochgeduldeten. Wo war eigentlich unser Supermann von damals? Wo war Robert gelandet? Dass er Architektur studiert hatte wusste ich. Heute ist er Staatsangestellter in einem welschen Kanton und kümmert sich um Baugesuche. Kürzlich traf ich ihn zufällig im Zug nach Lausanne. Er pendelte zu seinem Arbeitsort. Immer noch ein langweiliger Besserwisser, der täglich die NZZ auswendig lernte. Von einem Fluidum der Langweile umgeben. Seine vornehme Art als bescheidener Snob zu erscheinen hatte er nicht abgelegt. Um mit ihm ins Gespräch zu kommen, gab ich mir Mühe, meine Bewunderung des Klassenbesten von früher, hervorzuholen. Wie ich so vor ihm sass, war von jener Glorifizierung nichts mehr vorhanden. Wo war sie, die Brillanz von damals, die ich so neidvoll bewunderte, geblieben? Was hatte ihn den früher zum Crack gemacht? Unsere Klasse war eine geschlossene Werkstatt. Wer gut aufpassen konnte, fleissig war (in den Augen der Lehrer fleissig) und ein gutes Gedächtnis hatte konnte es zum Spitzenreiter schaffen. Die Matura bestehen.

Beim Eintritt ins Erwerbsleben, war vom Biotop des Gymis nichts mehr übrig. Hier wehte der frische Wind der Erfordernissen der Praxis. Ganz andere Fähigkeiten und Eignungen waren gefragt. Sachkenntnis natürlich, darüber hinaus die Gabe des freien Vortrags, eines Vortrags in einfacher verständlicher Sprache. Menschenkenntnis und Eleganz im Umgang mit Geschäftspartnern musste man zu handhaben wissen. Die Geselligkeit mit Kunden, Lieferanten, Angestellten und ihre Angehörigen, auch mit Journalisten und Konkurrenten gehörten dazu. Fakultäten die weder im Gymi noch im Studium unterrichtet wurden.
Sich in diese neue Welt zurecht zu finden, dazu braucht es Denkfähigkeiten, die beim Klassenprimus nicht zu finden sind. Was heisst, suche Deine Talente so früh wie möglich herauszufinden und entwickle sie. Spiele sie aus wann immer Du kannst. Wenn möglich schon in der Gymnasialzeit. Allerdings läufst Du dann Gefahr nie ein Klassenerster zu werden.

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