1719
In der Erzählung spielt Joseph Alexis Julier von Leukerbad eine gewichtige Rol- le. Er kam in Wien zu Geld und Ansehen. Wie es dazu kam, soll der folgende Bericht erklären. Er wurde dem Autor an einem Ostermontag von Gaston Ju- lier, einem Nachfahre von Alex in Leuk, mündlich übermittelt. Die Geschichte beginnt im Ferienhaus der Familie Julier in Leukerbad.
Die Geräusche im Hause unterschieden sich nur unwesentlich von den all- täglichen. Die zufriedenen Gesichter der Bewohner liessen auf ein ausser- ordentliches Ereignis schliessen. Besonders die Anwesenheit einer massigen Klatschtante, der Hebamme des Dorfes, liess erahnen, um was es sich han- deln könnte! Vorausgesetzt, man kannte sie! Mit einem silbernen Becher in der Rechten, die linke Faust auf der fetten Hüfte, schlürfte sie vernehmlich den gezuckerten Glühwein und machte einen zerknirschten Eindruck, als ob sie selbst die Leiden und Nöte einer Geburt hätte erdulden müssen.
Die Frau des Hauses, Maria, eine geborene Oggier aus Leuk, hatte soeben die Familie um ein weiteres Mitglied bereichert. Dieser neugeborene Sohn war das Besondere, nicht etwa die Geburt an sich. Für Maria war es nicht das erste, noch sollte es das letzte Kind bleiben. Die Geburten stellten sich Jahr für Jahr ein. Nur die hohe Kindersterblichkeit dieser Tage hielt die Zahl des Nach- wuchses im tragbaren Rahmen. Stefan, der Vater, Zenden-Hauptmann von Leuk, Badrichter von Leukerbad, Notar und Jäger aus Leidenschaft, ertrug mit Geduld und Gleichmut die Sorgen seiner häufigen Vaterschaften. Die vielen Beweise seiner Zeugungskraft gefährdeten seine Lebenshaltung genau so we- nig, wie er Gefahr lief, in dem vielen Wein, den er Zeit seines Lebens in klei- neren und grösseren Mengen genossen hatte, zu ertrinken. Damals wie heute hatte die Frau an den Folgen der kurzen Freude mehr zu leiden als der Herr der Schöpfung. Stefan also erlebte diesen Tag mit stoischer Ruhe und nahm mit der Routine eines biblischen Patriarchen die Glückwünsche der sich einfinden- den Verwandten und Bekannten entgegen.
Diese ebenfalls im Tal wohnend, aber zurzeit in Leukerbad weilend, umlagerten die Eltern und das Neugeborene und rätselten laut, wem es nun wohl ähnlicher sein könnte – ein Hin und Her, das kein Ende nehmen wollte. Maria freute sich über das Interesse, das Gesumme verursachte ihr jedoch Kopfschmerzen. Sie nahm sich vor, sich bei Gelegenheit zu revanchieren. Unbeeindruckt vom Geschehen rings herum, gähnte der kleine Heide respektlos in die Gesichter der Matronen, die ihn partout umarmen wollten.
Leukerbad
Seine Frechheit ging so weit, in die Nase der Frau Amtmann zu niesen, die heimlich dem Schnupftabak huldigte. Dieser Sucht zu huldigen war vom Bi- schof von Sitten per Dekret untersagt. Er war nicht nur geistlich, sondern auch weltlich die Nummer eins im Rhonetal. Das Zitat «unter dem Krummstab ist gut leben» war weit herum bekannt, traf aber für die Frau Amtmann nicht zu, die den Sprössling mit Verachtung strafte und sich mit dem Gedanken tröstete, dass das Äffchen noch nicht getauft und demzufolge noch dem Teufel gehörte.
Es galt nun, diesem Umstand Rechnung zu tragen und den Kleinen den Fän- gen des Satans zu entreissen. Aber wie? Leukerbad war zwar eine selbstständige Pfarrei, der Pfarrer aber seit Wochen krank, geplagt vom Rheumatismus. Kein noch so wundersames Wasser, das hier aus dem Boden sprudelt, konnte seine Schmerzen lindern. Zudem sollte das Kind im Hauptort getauft werden, nicht zuletzt, weil die Paten dort wohnten und auf das Ereignis warteten.
Die drei Wegstunden nach Leuk konnten einen Mann wie Stefan nicht beein- drucken. Auf unzähligen Pirschgängen hatte er sich seine Kondition antrai- niert, die einem «starken Baschi» nur wenig nachsieht.
Er verkündete also, seinen Sohn «per pedes» nach Leuk und zurückzutragen, sich nicht zu verweilen und den Kleinen in kürzester Zeit in die Arme der Mut- ter zurückzulegen, getauft und der Hölle entrissen!
Die vorgeschlagenen Transportarten wie Maulesel, Tragkorb und Sänfte wur- den von ihm abgelehnt, da sie nicht schnell genug und vor allem seiner un- würdig seien. Sein Vorschlag, für ihn bereits eine Tatsache, ging dahin, seinen Sohn in den Rucksack zu packen. Da, wie erwartet von keiner Seite Opposition gemacht wurde, nahm er sich vor, diesen Plan gleich am nächsten Morgen in die Tat umzusetzen.
Nach einem kurzen Kampf mit sich selbst entschied er sich, sein Gewehr zu Hause zu lassen. Es schien ihm nicht richtig, einen Akt der Religion mit seiner liebsten Beschäftigung zu verknüpfen. Auf einem Stundenmarsch in dieser Ge- gend hätte es zwangsläufig etwas zu jagen geben müssen. Es hätte dann aber ein Zehn-und-mehr-Stunden-Marsch daraus werden können. Beim Verlassen des Hauses streifte er noch einmal mit verstohlenem Blick seinen Schiessprügel in der Ecke, bevor er endgültig das Haus verliess und mit langen Schritten Rich- tung Inden entschwand. Das Wild, gefiedert und behaart, das sich normaler- weise beim Auftauchen seiner Fellmütze verdünnisierte, schien zu wissen, dass heute keine Gefahr drohte. Fuchs und Hase kreuzten mehrmals seinen Weg, und ein Wiesel war impertinent genug, eine lange Strecke vor ihm herzulaufen. Wahrlich, für jeden Nimrod eine mehr als ärgerliche Sache. Es reute ihn nun doch, seinen Freund, die Flinte, zu Hause gelassen zu haben.
An der Barbarakapelle vorbei, sah er bald den mächtigen Turm der Kirche von Leuk und daneben die vier Ecken des «Schälmiturru», wie der ehemalige Sommersitz des Bischofs von Sitten im Volksmund auch genannt wird. Bald befand er sich vor dem Hauptportal der Kirche von Leuk. Da er noch die Paten
holen wollte, hing er kurzentschlossen den Rucksack samt Inhalt an den Tür- griff der Kirchentüre. Zusammen mit den Paten näherte er sich wieder dem Gotteshaus und einer der Paten, Herr Morency, fragte:
«Wo ist eigentlich das Kind?»
«Es wartet bei der Kirche auf uns», sagte Stefan lachend.
«Hoffentlich», meinte die Patin, Frau Morency, «aber ich sehe niemanden vor der Kirche.» Stefan lachte aus vollem Hals, zeigte auf den hängenden Sack an der Türe und sagte:
«Dort habe ich ihn hingehängt, und wie Sie sehen oder eben nicht sehen, hat ihn niemand gestört!» Maria-Madeleine Morency wurde grau im Gesicht und protestierte lauthals: «Mon Dieu – mon Dieu, wie kann man so etwas ma- chen? Wie leicht hätte dem Kind etwas geschehen können!»
Inzwischen war auch der hochwürdige Herr Pfarrer beim Portal eingetroffen, zusammen mit dem zweiten Paten, Herrn Loretan. Diese zwei wussten jetzt nicht genau, ob sie mit Madame schimpfen oder mit Stefan lachen sollten. Die Situation war auf jeden Fall nicht alltäglich, fünf Personen um einen Täufling, von dem nicht einmal die Nasenspitze zu sehen war. Die Lage beruhigte sich. Madame holte den Kleinen aus dem nicht ungemütlichen Sack, und die Taufe wurde vollzogen. Er wurde auf den Namen Joseph Alex getauft.
Alex wurde sein Rufname. Nach Beendigung der Zeremonie nahm Stefan sei- nen Alex wieder in Empfang, verfrachtete ihn zurück in den Sack, dies unge- achtet der Proteste. Er verabschiedete sich von der Gesellschaft und nahm den Weg zurück nach Leukerbad unter die Füsse.
Niemals zuvor, so schien es ihm zumindest, war das Tal der Dala so voll jagd- baren Wildes gewesen. Die Wut im Bauch beflügelte seine Schritte.
Unterhalb von Inden am Ufer des Baches fing der Kleine an zu heulen. Der Vater, der die Hoffnung gehabt hatte, ohne diese Musik nach Hause zu kom- men, sah sich in seinen Erwartungen getäuscht. Alex schrie, was die Lunge her- gab, und übertönte alle Geräusche der Mutter Natur. Es half nichts, das Kind musste raus aus dem Sack. Er nahm seinen Sohn auf den Schoss und wiegte ihn, dabei sang er ihm ein Liedchen vor, das er von seiner Frau oft gehört hatte. Während dieser ihm so fremden Beschäftigung schaute er sich die Umgebung an. Von einem Baum sah er sich von zwei Eichhörnchen spöttisch beobachtet. Dies hob seine Laune keineswegs. Sein Sprössling war jetzt bei Fortissimo an- gekommen, lauter, so schien es ihm, konnte es ganz einfach nicht werden. Die
Bärenstimme seines Vaters konnte ihn nicht beruhigen. Seine eigene erlahmte aber mit der Zeit, und völlig ermattet sank er erneut in Morpheus‘ Arme. Blitz- schnell packte ihn Stefan wieder in den Sack, und in wenigen Minuten war er im Dorf Inden. Beim erstbesten Haus drang er ein und brüllte: «Hallo, ist hier jemand zu Hause?» Er hörte von oben eine weibliche Stimme, die er zu kennen glaubte. Ohne Umschweife stieg er nach oben und kam in ein Zimmer, in dem eine junge Frau ihr Kind stillte. «Gut», meinte er, «hier ist noch ein Kind, das nichts gegen Ihre zweite Quelle einzuwenden hat!»
Er reichte ihr seinen Buben, den er aus den Tiefen seines Rucksacks hervorhol- te und der gerade zu einer weiteren Soloarie ansetzte.
«Bu-jässus – jässus», sagte die Frau nur und nahm den Kleinen zur Fütterung entgegen. Stefan setzte sich hin und erzählte der Wöchnerin, Lisbeth hiess sie, die Geschehnisse des Tages und fragte:
«Ihr Mann hat nicht zufällig ein Gewehr im Haus?»
«Doch, doch, hinter Ihnen im Kasten ist das Gewehr samt Pulver und Kugeln.»
«Sagen Sie Ihrem Hans, dass ich es ihm bei Gelegenheit wieder zurückbringen werde.»
Er packte seinen gesättigten Sohn wieder in den Sack und verliess samt Waffe das Haus. Bald hatte er Gelegenheit, einen Schuss auf einen Eichelhäher abzugeben. Aber wegen der fremden ungewohnten Waffe verletzte er den Vogel bloss am Flü- gel. Dieser schlug mit dem gesunden Flügel und kreischte und machte damit alle Tiere rebellisch. Ein Hase hüpfte vor Schreck vor die Füsse des Jägers und sprang in Richtung Dala, den Abhang hinunter. Stefan zögerte einen Augenblick. Hing dann seinen Rucksack an einen Ast und setzte Meister Lampe nach, sich an Wurzeln und Grasbüschel haltend, den Hang hinunter. Mehr als einmal dachte er daran aufzuge- ben, aber der Jäger in ihm war erwacht und konnte nicht von seinem Opfer lassen. Er vergass Zeit und Kind und wollte vor allem nicht mit leeren Händen zurück. Unten am Wasser verlor er viel Zeit auf der Suche nach seinem Braten. Schlussend- lich musste er doch aufgeben. Er kletterte wieder den Hang hinauf und erreichte den Weg unweit der Stelle, wo er den Sack verlassen hatte. Aber, oh Schreck, dieser war weg und mit ihm sein Alex. Er marschierte zurück nach Inden. Ihm war nicht wohl beim Gedanken, ohne seinen Sohn nach Hause gehen zu müssen. Was wohl seine Frau dazu sagen würde? Es begegneten ihm einige Leute, aber sie versicherten hoch und heilig, niemanden gesehen zu haben. Schweren Herzens nahm er nun den Heimweg unter die Füsse und suchte unterwegs nach Formulierungen, um sei- ner Frau die schlechte Nachricht schonend beizubringen.
Beim Betreten des Zimmers sah er als Erstes seine Frau mit Alex in den Armen. Wie konnte das geschehen? Gleichzeitig sah er den Pfarrer von Leuk, daneben den Paten, Herrn Loretan.
«Wie ist das möglich, Hochwürden, vor fünf Stunden habe ich Sie in Leuk verlassen und nun sind Sie hier in meinem Hause?»
Der Pate übernahm es, die Situation zu klären. Kaum sei er, Stefan, von Leuk weg gewesen, habe der Pfarrer Besuch aus Leukerbad erhalten, der ihn gebe- ten hätte, dort einige Besuche zu machen, da ja bekanntlich der Pfarrer von Leukerbad krank sei. Er habe die Gelegenheit benutzt, den Pfarrer zu begleiten und sie hätten gehofft, ihn, Stefan, noch einzuholen. Bei dem Tempo, das er vorgelegt habe, sei dies leider nicht möglich gewesen. Kurz nach Inden hätten sie dann den bekannten Rucksack am Ast hängend vorgefunden. Sie hätten ge- dacht, es wäre vielleicht besser, den Kleinen seiner Mutter sofort nach Hause zu bringen, statt ihn dort hängen zu lassen. Voilà!!
Stefan meinte:
«Und Sie, Hochwürden, haben die Gelegenheit benutzt, mir eine heilsame Lehre zu erteilen. Nun, wir wollen die Sache vergessen, aber Sie haben mir ei- nen Schrecken eingejagt, den ich so schnell nicht vergessen werde.»
Unser Alex verbrachte die ersten achtzehn Jahre im Schosse der Familie in Varen, Leukerbad und Leuk, wo er beim Pfarrer seinen ersten Unterricht bekam. An- schliessend wurde er, zusammen mit seinem Vetter Christian aus der älteren Julier- Familienlinie, nach Sitten geschickt, um ein klassisches Studium aufzunehmen. Die beiden waren gleich alt. Sie wohnten bei einem entfernten Verwandten, dem Priester und Domherr Loretan. Christian besuchte später die Universität in Mailand, wurde Geistlicher, im Jahre 1751 selbst Domherr und 1754 Pfarrer und Dekan in Leuk. Er starb 1777.
Alex überlebte ihn um 21 Jahre. Stefan träumte von einer ähnlichen Karriere für seinen Sohn Alex. Der Älteste, Johann, im Jahr 1715 geboren, sollte einst das Erbe übernehmen.
Er, der Vater, sah Alex bereits als Nachfolger seiner Eminenz, des Bischofs von Sitten, souveräner Fürst des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Der Gedanke, dass er, Stefan Julier, Vater eines Fürsten werden könnte, berauschte ihn geradezu. Kein Wahrsager war da, um ihn auf weniger grosse Ehren vorzubereiten. Die zwei waren also in Sitten und lasen die Schriften der Antike, Homer, Virgil,
Cicero, Horaz und auch Julius Cäsar, der, wie sie mit grösster Überraschung feststellten, ebenfalls Julier als Familienname gehabt hatte.
Da Cäsar, auf seinen Zügen nach Gallien, unzweifelhaft im Walis gewesen war, schwelgten sie in der Vorstellung, Abkömmlinge dieses Manns zu sein, der sei- ne Herkunft auf das trojanische Königshaus zurückführte.
Die französische Sprache war für sie beide ein Schrecken ohne Ende, für Alex mehr als für Christian. Da Sitten fest in deutscher, sprich Oberwalliser Hand war, konnten sie sich damit abfinden. Im Herbst war man wieder in Varen. Vater Stefan, der für sein Geld etwas sehen wollte, nahm seinen Sohn regelmäs- sig ins Gebet. Wenn er mit dem Resultat zufrieden war, bequemte er sich zum höchsten Lob, dessen er fähig war, und sagte: «Morgen kommst du mit mir auf die Jagd.» Etliche Male gab sich der Jüngling mit dieser Belohnung zufrieden. Doch mit den Jahren wuchs auch der Bedarf in andere Richtungen.
Wie es bei Schiller heisst: «Doch mit des Geschickes Mächten ist kein ewiger Bund zu flechten und das Unglück schreitet schnell.»
Die Kleider wurden zu Hause gefertigt, der Stoff zu Hause gewoben. Sie dien- ten einigen Generationen und wurden dann noch für die Kinder geändert. Geld für so überflüssige Sachen wie Kleider auszugeben, kam nicht in Frage. Stefan machte hier keine Ausnahme. Er bezahlte, was immer das Kollegium in Sitten kostete und was sein Verwandter für Kost und Logis haben musste. Sein Sohn bekleidete er, das heisst die Mutter, mit den abgetragenen Anzügen seiner Ahnen, bei besonderen Anlässen mit einem Anzug des Vaters. Taschen- geld kannte er nicht.
Alex bewegte sich in einer geistigen Welt, ausgelöst durch das Studium, in ori- entalischer Pracht, zwischen Olymp und Athen, zwischen Kapitol und Forum– sein fadenscheiniger Anzug wollte ihm nicht in diese Umgebung passen, zwischen Purpur und Seide! Dieser Sinn für das Schöne und Teure vergiftete sein Leben und seine Seele und brachte ihm seine armselige Erscheinung so richtig zum Bewusstsein. Erschwerend kam hinzu, dass gegenüber des Domherrn der Bürgermeister mit drei Töchtern wohnte. Das waren echte Zicken, zwar hübsch, aber äusserst arrogant. Diese Gänse hatten es stets auf Alex abgesehen und machten ihm das Leben zur Hölle. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit lachten sie ihn aus. Er hatte schon diverse Methoden ausgedacht, sich dieser Läuse im Pelz zu entledigen – aber nichts half, sie liessen sich nicht abschüt- teln. Der obligate Studentenmantel, ein schwarzer Fetzen, den zu tragen man verpflichtet war, konnte man anziehen, wie man wollte, Elegantes wurde nicht daraus. Er verdeckte oft die noch schäbigeren Kleider. Die drei Hexen, wie er sie im Stillen nannte, tuschelten immer, wenn er in greifbare Nähe kam, etwas von einem eleganten Spaniolen.Sitten
Nun wollte es der Zufall, oder war es die Macht des Schicksals, dass ein Tuch- händler an der Rue du Grand Pont ein Stück Tuch offerierte, das Nonplusultra auf dem Markt! Und auch noch sehr günstig. Alex wehrte sich jedoch gegen dieses Ansinnen, sich ohne Erlaubnis des Vaters neu einzukleiden. Mit einem Seufzer entsagte er der Versuchung, einem Seufzer, der aber dem Händler viel- versprechend vorkam. Immer wieder versuchte er, unseren Helden von seiner Offerte zu überzeugen, bis hin zur Zusicherung, den Handel auch auf Kredit abwickeln zu wollen und den Schuldner nicht allzu sehr zu drängen.
Am Vortag der verhängnisvollen Entscheidung blieb Alex zu Hause im Bett und machte in Gedanken alle möglichen und unmöglichen Überlegungen, um diesen Schritt zu rechtfertigen.
Fazit, der neue Anzug musste her! Der Handel wurde getätigt. Alex neu ein- gekleidet und auch mit neuen Schuhen und Hut ausgerüstet. So kam es, dass am Ostersonntag 1737 der Hauptort um eine überaus elegante Erscheinung bereichert wurde. Er hatte seine Bleibe noch nicht ganz verlassen, vernahm er schon die Oooohs und Aaaahs von gegenüber. Beim Vorbeigehen hörte er, wie sie sich zuflüsterten, nun doch Erfolg gehabt zu haben.
Das Leben wurde freundlicher, die Blicke der Umgebung einladend bis verfüh- rerisch. Schändlicherweise vergass der Tuchhändler seine Versprechungen und kam regelmässig dreimal die Woche, um sein Guthaben einzuziehen.
Da brachte der Bote das Schul- und Kostgeld von seinem Vater für das zweite Halbjahr, just zu dem Zeitpunkt, als der Händler wieder mal zu Besuch war. Alex riss die Geduld und warf dem Mann sein Geld vor die Füsse. Dieser musste sich etliche Male bücken, bevor er das Geld hatte und endgültig das Haus verliess.
Die Ferien kamen und Alex reiste in seinen alten Klamotten nach Hause. Er hatte den festen Vorsatz, seinem Vater dies zu beichten. Weder die Schule noch der Domherr machten sich Gedanken über das ausstehende Geld. Der Heimweg, ein langer Fussmarsch, wurde ihm zur Qual. Er kannte seinen Vater zu gut, um nicht zu wissen, dass er sehr jähzornig werden konnte. Er stellte sich vor, dies wäre nun sein erster Gerichtsfall, denn für die Juristerei hatte er sich schon definitiv entschieden. Er überlegte sich, welche Argumente er wohl vorbringen könnte, um seinen Vater zu besänftigen und auch das Schlusswort, das den Fall endgültig zu seine Gunsten entscheiden sollte. Er traf seinen Vater in übelster Laune an. Das Jagdglück schien ihm nicht hold gewesen zu sein. So verschob er seine Beichte. Das gemeinsame Nachtessen, ein paar geschossene Wachteln, konnten das eisige Klima nicht auftauen. Alex legte sich zu Bett mit dem festen Vorsatz, die Sache am nächsten Tag zu bereinigen. Aber auch am nächsten und übernächsten Tag fand er nicht den Mut, seine Sünde zu beichten. Seine Mutter wusste bereits alles, aber auch sie traute sich nicht, ihren Mann auf- zuklären. Maria war von der Ungeheuerlichkeit dieser Sünde überzeugt und wagte es schlicht und einfach nicht, Alex dem Vater gegenüber in Schutz zu nehmen. So vergingen die Ferien und Alex schwieg beharrlich. Er hatte sich eine neue Taktik ausgedacht, nämlich den Domherrn einzuweihen und es ihm zu überlassen, die Sache mit seinem Vater ins Reine zu bringen. Nach dieser Überlegung fiel ihm ein grosser Stein vom Herzen. Er verabschiedete sich in der gewohnten Art von seinen Eltern und nahm den beschwerlichen Weg nach Sitten unter die Füsse.
Der Weg befand sich nicht in der Talsohle, diese wird von der Rhone ganz und gar beansprucht. Dieser Weg klebte am Berg und machte jede Falte des Gelän- des mit. Ob Siders traf Alex auf einen Reitersmann mit militärischem Gehabe. Dieser Mann sprach Deutsch mit einem lustigen Akzent. Er stellte sich vor als General Graf Ödön von Batthyány aus Budapest, wohnhaft in Wien und pri- vat unterwegs. Eine feuerrote Narbe spaltete sein Gesicht von seinem rechten Auge bis zur Oberlippe. Bei entspanntem Gesicht tat dies seiner Männlichkeit keinen Abbruch. Sobald er aber lachte, und das tat er oft, wurde aus ihm ein Häufchen Elend, denn man hatte sofort den Eindruck, dass er weinen würde. Jeder hat so sein Kreuz zu tragen.
Sie kamen ins Gespräch. Die Neugierde des Haudegens war unerschöpflich. Über alles und über jedes wollte er Auskunft bekommen. Alex blieb keine Ant- wort schuldig. Er wusste über alles Bescheid, konnte über alles mitreden. Er machte auf den Grafen einen sehr guten Eindruck.
In Sitten angekommen, unter dem Leukertor, schlug der Graf vor, Alex solle gleich bei ihm bleiben und ihn als sein Sekretär auf der Heimreise nach Wien begleiten. Sein bisheriger Begleiter hätte ihn bereits in Rom verlassen. «Also wenn Sie einverstanden sind und natürlich auch Ihre Eltern, nehme ich Sie gleich mit nach Wien!»
Für Alex kam das alles ein bisschen zu plötzlich, er machte nur eine hilflose Geste. Er verabschiedete sich vor dem «Hôtel du Lion d’Or» von seinem Weg- gefährten und ging zu seinem Verwandten.
Etwa zu dieser Zeit bekam sein Vater in Varen einen Brief von eben diesem Verwandten, dem Domherrn.
Lieber Vetter,
in einer Woche gehen die Ferien zu Ende und ich erwarte mit Freude die Rück- kehr Deines Sohnes unter meinem Dach. Der Junge macht sich und Du darfst stolz sein, einen so begabten Sprössling zu haben. Er ist einer der Besten in seiner Klasse und so Gott der Allmächtige will, wird er Dir, der Familie und uns allen viel Ehre machen.
Ich habe mit Freude zur Kenntnis genommen, wie Du ihn letzte Ostern neu ein- gekleidet hast. Es schien mir richtig zu sein, ihm mit dieser Geste zu zeigen, dass man mit ihm zufrieden ist. Ich werde mich also mit der gleichen Freude Deinem Sohne widmen wie bis anhin und grüsse Dich freundlich und verbleibe Dein etc. etc.
P.S. Vergiss nicht, ihm das Schul- und Kostgeld mitzugeben, die Schule und meine Jungfrau liegen mir dauernd damit in den Ohren!
Dieser Nachsatz war wohl der eigentliche Grund dieses Briefes. Der Schuss war draussen, die Lawine im Rollen.
Alex sass beim Domherr zu Tisch. Sie plauderten über dieses und jenes, ohne das heikle Thema zu berühren, das dem Domherrn so am Herzen lag. Dieser wollte aber unbedingt auf die Sache zu sprechen kommen und fragte plötz- lich: «Alex, hat dir dein Vater nichts für uns mitgegeben?» «Nein, ich weiss schon, was Sie erwarten und ich bitte Sie, sich bis morgen zu gedulden. Was ich Ihnen zu sagen habe, wird zeigen, dass mein Vater in dieser Sache keine Schuld trifft.« «Nun, ich hatte meinen Brief sehr sorgfältig gestaltet und habe dei- nen Fortschritt in der Schule gepriesen. Trotzdem habe ich mir erlaubt, ihn auf unsere Bedürfnisse aufmerksam zu machen, die nun zu Martini, wie du weisst, grösser sind als zu einem anderen Zeitpunkt im Jahr. Du wirst das doch begrei- fen, oder? Es scheint mir nun wahrhaftig, dass mein Brief bei deiner Abreise noch nicht in Varen eingetroffen ist.» Alex war von dieser Eröffnung ganz er- schlagen. Er brachte keinen Ton über seine Lippen.
Der Domherr, gewohnt mit den Hühnern schlafen zu gehen, verschwand in sein Gemach, mit dem Gedanken, dass sich am nächsten Tag alles aufklären würde.
Alex verliess auf der Stelle das Haus und begab sich ins Hotel, wo er den Grafen beim Nachtmahl vorfand. Alex verlor keine Zeit und fragte ihn, ob das Angebot immer noch gelten würde. Wenn ja, würde er annehmen und Sitten gleich morgen mit ihm verlassen. Er habe seinen Eltern einen erklärenden Brief geschrieben. Sein Vater würde ganz sicher einverstanden sein, dass er, Alex, seine Studien in Wien fortsetzen würde. Der ungarische Edelmann liess sich ohne Mühe überzeugen und sie verabredeten für den nächsten Tag, sich ausserhalb von Sitten auf der Strasse nach Martinach zu treffen. Wohlweislich, um alle Nachforschungen nach Alex zu erschweren.
Zurück in seinem Zimmer, schrieb er seinem Vater einen Brief, erklärte ihm alles und bat ihn um Verzeihung für seine Torheit und auch für sein Verschwinden. Er werde sich bald wieder zu Hause melden, sobald er es zu etwas gebracht hätte. Wien und den Grafen erwähnte er nicht. Seinem Gastgeber schrieb er ebenfalls einen Brief. Beide übergab er seinem Vetter Christian, der natürlich von Anfang an alles mitbekommen hatte, sich aber absichtlich aus allem raus- gehalten hatte. Sein Wunsch, Priester zu werden, stand schon fest. Mit solchen weltlichen Dingen wollte und konnte er nichts zu tun haben.
Mit schwerem Herzen verliess Alex seine Bleibe. Er wartete auf der erwähnten Strasse auf seinen neuen Dienstherrn, dessen Pferd er bald zu sehen bekam.
«Er stürmt ins Leben wild hinaus – durchmisst die Welt am Wanderstabe», steht auch irgendwo bei Schiller.
Das ungleiche Paar, der eine hoch zu Ross, der andere auf Schusters Rappen, zogen das Rhonetal hinunter Richtung Genfersee. Für Alex tat sich eine wunderbare Welt auf. Bis heute waren Leukerbad, Brig und Sitten die Grenzen, über die er noch nie hinausgekommen war. Wie hätte er sich vorstellen können, jemals einen See zu sehen, dessen Ende nicht auszumachen war! Immer wieder schweifte sein Blick zurück, es war nicht klar, ob er nach Verfolgern aus- schaute oder ob er sich von seiner Heimat verabschiedete, die langsam hinter ihm im Dunst verschwand. Es war bald Winter und das Land dampfte, obwohl der Stockalperkanal die Gegend seit einigen Jahren entwässerte. Villeneuve – Montreux – Vevey. Die Dörfer reihten sich wie Perlen, die Weinberge verban- den sie zu einer lieblichen Kette. Die Ernte war vorbei und die verbleibenden Trauben gehörten dem, der sie fand.
Der Herr General war mit seinem Sekretär sehr zufrieden. Er bedauerte keinen Moment, den Vorgänger in Rom verloren zu haben. Immerhin befand man sich schon tief in Französisch sprechendem Gebiet. Alex hatte die Gelegenheit, seine Kenntnisse, die er sich widerwillig angeeignet hatte, anzuwenden. Dies kam nun beiden sehr gelegen. Der ungarische Edelmann war auf den Schlachtfeldern besser bewandert als bei Hofe in Wien. Dort wurde auch Französisch gesprochen, wenn auch nicht ausschliesslich. Sie verbrachten die erste Nacht in Vevey.
Seine Arbeit als Sekretär des Grafen hatte Alex sich anstrengender vorgestellt. Es gab keine Briefe zu schreiben, keine Berichte abzufassen, nichts, einfach nichts. Der Graf wollte nur reden und Gesellschaft haben.
Bei ihrer Abreise begegnete ihnen eine Schar Krieger, die mit diversen Musik- instrumenten einen Spektakel machten, als ob es Fasnacht wäre. Wahrschein- lich hatten sie einen Raubzug in Feindesland hinter sich und kamen fröhlich und guter Dinge wieder nach Hause.
Die Reisenden näherten sich langsam der Grenze. Man befand sich im Aargau. Der Graf wollte unbedingt die Habsburg besuchen, das Stammesschloss des Kaisers in Wien.
Alex wusste viel über griechische und römische Geschichte, über Perser und Meder, aber über die aktuelle Zeitgeschichte rein gar nichts. Er erfuhr nun, dass der Kaiser der letzte männliche Habsburger sei.
Sie zogen weiter.
Alex vernahm mehr über die Scharte, die den Grafen verunstaltete. Alles sei bei der Schlacht von Guastalla passiert. Ein Franzose, ein Husarenoberst, sei dafür verantwortlich. Der Graf hatte es ihm aber auch besorgt. Solche Streiche würde er keine mehr machen können. Leider sei er nun für den Rest seines Lebens gezeichnet. Dagegen liesse sich nichts machen. Es gäbe ehrende und entehren- de Verletzungen, sichtbare und unsichtbare Wunden. Er habe auch noch eine Türkenkugel irgendwo in seinem Körper. Sie mache sich aber nur bei Gewitter bemerkbar.
Sie vertrieben sich die Zeit, indem sie sich in langen Gesprächen besser kennen lernen. Die zwei waren sehr ungleiche Partner. Der eine unerfahren in jeder Beziehung, der andere von der Schule des Lebens geprägt und als Soldat und hoher Offizier im Umgang mit jüngeren Menschen erfahren und mit feinem Gespür ausgestattet.
Kurz vor Wien kam es zu einem wichtigen Gespräch. Der General ergriff das Wort: «Hören Sie, junger Mann, ich habe über die Vorschläge, die ich Ihnen gemacht habe, gründlich nachgedacht. Ich hatte Sie Ihnen gemacht, weil sie mir in den Kram passten. Für mich waren Sie ein Unbekannter, dessen Dienste ich in Anspruch nehmen konnte. Sie waren mit 18 Jahren zu jung und nicht in der Lage, meine absurden Vorschläge abzulehnen. Wir haben uns beide geirrt. Sie, weil Sie zu jung sind. Ich, weil ich zu alt und zu bequem geworden bin.»
«Haben Herr Graf etwa die Möglichkeit gefunden, meine Situation zu ver- bessern?» «Ich will vor allem, dass Sie Vorteile aus meiner Unterstützung be- kommen. Um dies zu erreichen, muss ich meine Unterstützung auf das Not- wendigste beschränken!» «Aber, Herr Graf, ich erlaube mir, Sie vom Gegenteil zu überzeugen.» «Papperlapapp, lassen Sie das, es wird Ihnen nicht gelingen. Ein Jüngling, der Tag und Nacht in meinem Haus lebt und arbeitet, wird nie ein selbständiger Mensch werden. Darum entlasse ich Sie aus meinen Diensten. Sie werden kein angenehmes Leben als mein Sekretär führen können! Ich bestehe darauf, dass Sie selbständig Ihr Jura-Studium fortsetzen und in angemessener Zeit zu Ende bringen. Ich werde Sie nicht über Nacht Ihrem Schicksal über- lassen. Wir werden uns langsam trennen.» Dieser Vorschlag schien Alex nicht allzu sehr zu beunruhigen. Der General fuhr fort: «Ich behandle Sie, wie man einen militärischen Befehlshaber behandelt. Man gibt ihm genügend Zeit, die Landkarte eines Landstrichs zu studieren, in dem er operieren soll.» «Sie wis- sen anscheinend besser, was gut für mich ist, als ich selbst.» «Das versteht sich von selbst. Man muss den Schwierigkeiten des Lebens ins Auge blicken, Ent- täuschungen erleben und versuchen, sie zu überwinden. Kurz, man muss den Kampf des Lebens selber führen. Das Brot in der Fremde muss ab und zu mit Tränen aufgeweicht werden. Man muss erlebt haben, morgens aufzuwachen, ohne zu wissen, wo man abends schlafen wird. Nur so kann ein Charakter ge- formt werden, eine Persönlichkeit reifen, zu der Sie sich hoffentlich entwickeln werden.» «Ich glaube, dass ich diesem Gedanken folgen kann.» «Es ist leicht, im seichten Wasser zu schwimmen. Der Erfolg ohne vorgängigen Kampf bringt einen dazu, sich zu überschätzen. Schon die Bibel sagt: Breite und gerade Wege führen nicht ins Paradies. Die Welt respektiert nur Kämpfer, die sich nicht un- terkriegen lassen.» «Ich danke Ihnen, Herr General, dass Sie so offen zu mir sind. Dass Sie der Meinung sind, aus mir könne etwas werden. An mir soll es nicht liegen. Ich habe mir sowieso geschworen, entweder Erfolg zu haben oder das Wallis nicht mehr zu sehen. Ich werde meinem Vater nur noch mit hand- festen Sachen kommen können. Ich habe Ihnen meine Sünden ja gebeichtet. Sie wissen Bescheid. Sie haben mich benützt. Ich habe Sie benützt. Wir sind quitt.»
«Bravo, genau das wollte ich hören. Und nun wollen wir sehen, dass wir nach Hause kommen. Wir sind nämlich angekommen. Wir sind in Wien.»
Stadtwappen von Wien
Wir befinden uns im Jahre 1745. Alex ist 26 Jahre alt. Er hat sein Studium be- endet. Seine Doktorarbeit wurde angenommen. Er ist gerade dabei, sich mit einer reichen Witwe, Frau Wagner, zu verheiraten. Alex beginnt sich in Wien zu installieren.
General Graf von Batthyány spaziert im Prater und lässt sich seine Narbe von der Sonne bescheinen. Da begegnet ihm Prinz Auersperg, Herzog von Müns- terberg und Frankenstein, der ihn herzlich begrüsst.
«General, Sie begegnen dem unglücklichsten Edelmann des Reichs!»
«Und was könnte wohl der Grund sein, um einen reichen Fürsten unglücklich zu machen?»
«Ich bin bei Ihrer allergnädigsten Majestät in Ungnade gefallen!»
«Sie überraschen mich, ich hätte es nie für möglich gehalten, dass Sie, Hoheit, irgendetwas tun oder sagen könnten, das unsere Kaiserin bewegen könnte, Ihnen ihr Wohlwollen zu versagen.»
«Diese Meinung ehrt Sie, General, aber es ist so. Wenn wir stattdessen einen Kaiser hätten, wäre mir diese Schmach erspart geblieben. Diese Frauen, diese Frauen, sie bringen mich noch zur Verzweiflung.»
«Was wirft sie Ihnen vor?»
«Kaiserin Maria-Theresia ist entschlossen eine Fülle von Einrichtungen zu reorganisieren, Privilegien unter die Lupe zu nehmen und mir unter anderem Vorrechte zu streichen, die bis anhin absolut legal waren.»
«Die Kaiserin ist zwar noch keine dreissig Jahre alt, stellt sich aber, wie mir scheint, recht geschickt an beim Regieren ihrer Länder. Wenn Sie Ihnen also etwas vorzuwerfen hat, wird sie sicher ihre Gründe dafür haben. Sollte etwa die Tatsache, dass Sie als Heereslieferant zu einem der reichsten Fürsten des Reichs geworden sind, an höchster Stelle Unwillen erregt haben?»
«General, Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen. Sie vergessen aber zu erwähnen, dass diese Vorrechte bereits seit zwei Generationen in meiner Fami- lie sind. Sie sind vom Urgrossvater der Kaiserin meinen Ahnen zugestanden worden wegen geleisteter guter Dienste. Alle Handschreiben befinden sich bei mir zu Hause.»
«Daran ist nicht zu zweifeln, da Sie dieses Recht ausüben, müssen Sie es auch besitzen. Man wird sich überlegt haben, dass es höchste Zeit ist, Ihrer Familie dieses Privileg wieder zu nehmen.»
«Was die am Hofe sich überlegen, weiss ich nicht. Ich weiss nur, dass man dabei ist, mir den Prozess zu machen. Aber ich werde nicht still dasitzen und darauf warten, dass man mir das Fell abzieht. Ich werde mich wehren und su- che eigentlich nur einen Anwalt, der meine Sache gut vertreten kann. Leider scheinen alle guten Anwälte in Wien bereits auf der Gegenseite zu stehen. Die andern scheinen keine Lust zu haben, sich für meine Sache zu erwärmen. Sie kümmern sich lieber um Witwen und Waisen. Dabei ist mein Privileg auf dem besten Weg, ein Waisenkind zu werden.»
«Ich kann mir gut vorstellen, dass kein Anwalt Lust hat, gegen die Krone anzutreten und auch kaum eine Freude daran hätte, Ihnen dieses Privileg zu erhalten.»
«Ja, ja, unsere holde Kaiserin hat alle mit ihrem Charme und ihrer Liebens- würdigkeit verhext. Wenn ich also nicht einen geeigneten Anwalt finde, bin ich am Ende!»
«Herzog, ich glaube, dass ich den Mann kenne, der Ihnen in dieser Sache be- hilflich sein wird.»
«Und wo, zum Teufel, wollen Sie den guten Mann hernehmen?»
«Der Mann, den ich meine, hat sich gerade verheiratet und wohnt heute an einer besseren Adresse als noch vor einem Monat. Er ist ein Fremder aus ei- ner Randregion des Reichs. Genauer gesagt, es ist ein Walliser, der hier seine Rechtsstudien abgeschlossen hat. In Tat und Wahrheit bin ich gerade dabei,
den Alkoholdunst aus meinem Kopfe zu vertreiben, den ich mir anlässlich sei- ner Hochzeit eingehandelt habe.»
«Ist er Doktor der Rechte? Wie alt ist er?»
«Ja, er hat seinen Doktor gemacht und ist gerade mal sechsundzwanzig ge- worden.»
«Eigentlich müsste ich einen Anwalt haben mit einem meterlangen Bart, der bekannt ist und die Gegenseite erzittern lässt.»
«Und ich bin im Gegenteil der Meinung, dass Sie einen Mann benötigen, der nichts zu verlieren hat und im schlimmsten Fall verschwinden kann, ohne Auf- sehen zu erregen. Er reist dann einfach in seine Heimat zurück.»
«Das ist in der Tat eine Meinung, die sich hören lassen kann. Ich bin bereit, Ihrem Rat zu folgen. Wo finde ich den Mann?»
«Gehen Sie zuerst in die Universität und reden Sie mit dem zuständigen Rek- tor. Er kann Ihnen besser und gründlicher über den Mann Auskunft geben als ich.»
«Ich eile!»
«Ich habe nur eine Bedingung, Hoheit, dass Sie mich ganz aus dieser Sache herauslassen. Sagen Sie dem jungen Mann, Joseph Alex Julier, dass Sie ihn auf Grund einer Empfehlung aus der Fakultät mit Ihrem Fall beauftragen wollen. Ich habe meine Gründe dafür und bitte Sie um Ihr Wort.»
Prinz Auersperg verspricht, den Willen des Generals zu respektieren und eilt zur Universität. Dort hat er gleich Gelegenheit, mit dem Fakultätsvorsteher zu sprechen. Dieser hat Alex in sein Herz geschlossen, weil er selten einen so fleissigen Studenten gehabt hat. Sogar jetzt noch sieht er Alex ab und zu im Hörsaal. Für einen Doktor der Rechte ist das eher die Ausnahme. Ihm ist dieser junge, frische Student von Anfang an aufgefallen, der sich nie erlaubt hat, wäh- rend des Unterrichts zu gähnen oder gar zu schlafen. Bei seinen Kommilitonen ist das durchaus üblich. Alex hat einfach kein Geld, um nächtliche Touren in Grinzing und Nussdorf zu finanzieren. Zwischen dem Rektor und Alex hat sich im Laufe der Jahre ein Vater-Sohn-Verhältnis entwickelt. Bei der Ablieferung der Doktorarbeit ist nicht auszumachen, welcher der beiden stolzer gewesen ist. Der Rektor ist häufiger Gast bei Gericht, wenn Alex einen Fall zu behan- deln hat. Man sieht ihn den Kopf schütteln, wenn er mit den Ausführungen unseres Helden nicht einverstanden ist. Das ist nicht oft der Fall. Meistens kann er dem jungen Anwalt zu seinem Erfolg gratulieren.
Als er hört, wozu Alex eingespannt werden soll, ist er sofort Feuer und Flamme.
Er redet sich die Lippen wund, um dem hohen Gast die Vorzüge von Alex zu beschreiben und in allen Farben zu schildern. Seine Abschiedsworte sind auf jeden Fall unmissverständlich: «Gehen Sie zu ihm und laden Sie ihm Ihre Sor- gen auf seine Schultern. Sie werden es nicht bereuen, Hoheit!»
Er erzählt dem Herzog mehr aus der Heimat von Alex. Von seiner Familie, von der Unversöhnlichkeit des Vaters, von der Verbindung zum General. Er erzählt von der strengen Studienzeit seines Schülers, den Entbehrungen. Kurz, er informiert seinen Gast über seinen neuen Anwalt und schafft ein Umfeld, das sowohl dem Herzog als auch seinem Protegé zugutekommen sollte.
Auersperg begibt sich nach Hause, nimmt alle notwendigen Unterlagen an sich und geht zu Alex, der ihn höflich in seiner bescheidenen Kanzlei empfängt. Nachdem er sich vorgestellt und ihm von seinem letzten Gesprächspartner er- zählt hat, bringt er das Thema endlich auf seinen sich anbahnenden Prozess. Alex winkt bescheiden ab und meint, dass er für solch einen Fall viel zu un- erfahren sei. Er habe noch keine Gelegenheit gehabt, sich in einem kompli- zierten Geschäft gegen die Krone zu bewähren. Prinz Auersperg, Herzog von Münsterberg und Frankenstein, Heereslieferant von Habsburgs Gnaden, hat keine grosse Mühe, Alex, selbst wenn er seine Meinung ändern muss, von der Richtigkeit seiner Entscheidung zu überzeugen.
Der Herzog: «Der Hof hat die besten Anwälte Wiens für diese Sache einge- spannt.»
Alex: «Dann stehen die aber auf schwachen Füssen.»
Der Herzog: «Wieso kommen Sie zu dieser Schlussfolgerung?»
Alex: «Ganz einfach, wenn der Hof seiner Sache so sicher wäre, hätte er sich kaum in solche Unkosten gestürzt. Bitte zeigen Sie mir Ihre Unterlagen.»
Nachdem er die verschiedenen Belege eine Weile studiert hat, wird sein Ge- sicht immer freundlicher, und er sagt: «Ihre Rechte scheinen mir unbestreitbar zu sein.»
Der Herzog: «Sie scheinen zu scherzen, immerhin haben wir es mit einem starken Gegner zu tun.»
Alex: «Genau aus diesem Grunde ist mir nicht zum Scherzen zumute. Ich wür- de so etwas nicht sagen, wenn Ihre Unterlagen nicht eindeutig wären.»
Der Herzog: «Sie scheinen also bereits gewonnen zu haben? Ich meine, wir scheinen bereits gewonnen zu haben.»
Alex: «Keineswegs, Sie müssen nicht vergessen, dass wir nicht nur die Krone gegen uns haben, sondern auch die öffentliche Meinung. Und nicht nur das.
Die Richter werden wohl auch eher auf der Gegenseite zu finden sein. Privilegien gegen höhere Interessen!»
Der Herzog: «Damit können Sie Recht haben. Von heute an ist das auch Ihr Kampf. Sie werden dafür sorgen, dass die öffentliche Meinung sich ändert.» Er verabschiedet sich von Alex, der sofort nach dem Herzog das Haus verlässt, um dem Grafen, seinem Freund, diese Neuigkeit mitzuteilen. Dieser spielt mit und tut so, als ob das alles neu für ihn wäre. Der General meint, dass er immer schon gesagt habe, dass der Erfolg für einen starken Mann immer nur eine Frage der Zeit sei.
Ein Prozess dieser Grössenordnung musste Aufsehen erregen. Auf der einen Seite der Hof und die kaiserliche Macht. Auf der anderen Seite ein hochange- sehenes herzogliches Haus. Ferner ging es um enorme Geldbeträge! Die Anzahl der juristischen Grössen auf der Klägerseite und die einsame Stimme auf Seiten der Verteidigung.
Wien redete vier Tage lang von dieser Sache. Anschliessend beschäftigte sich die Provinz noch weitere acht Tage damit. Die Familie des Herzoges und auch seine engsten Freunde kritisierten um die Wette die getroffene Anwalt-Wahl des Prinzen. Doch dieser war dickköpfig und anmassend, so wie es sich einem reichen Mann geziemt. Je mehr man ihn bedrängte, umso sturer blieb er bei seiner Wahl.
Die Klageschrift, die im kaiserlichen Gerichtssaal verlesen wurde und auch in der Presse erschien, war lang und einschläfernd. Gespickt mit langweiligen Floskeln und Wiederholungen. Mit pseudowissenschaftlichen Überlegungen und Redewendungen. Das alte Arsenal der germanischen Gesetzgebung wurde malträtiert, nicht weniger das römische und das kanonische Recht. Die Über- treibungen waren unüberhörbar. Sie kompromittierten mehr die Vortragenden als die angesprochene Partei.
Joseph Alex entschloss sich, seine Gegner ins Lächerliche zu ziehen, und hatte mit dieser Methode Erfolg. Er umging mit grossem Feingefühl alle Klippen und beharr- te auf dem geschriebenen Wort, der Echtheit der vorgelegten Dokumente. Er war sich seines wahren Gegners durchaus bewusst. Die Kaiserin hatte die Sache selbst in Gang gebracht. Alex verstand es jedoch meisterhaft, diese hohe und äusserst be- liebte Persönlichkeit ganz und gar aus dem Geschehen auszuklammern. Nicht Ihre Majestät war es, die versuchte, ein Mitglied des Hochadels zu demütigen, sondern einige ehrgeizige Beamte, die mit Neid auf das herzogliche Haus blickten. Diese versuchten mit allen Mitteln, die Privilegien rückgängig zu machen. Die Privilegien waren bereits von Kaiser Ferdinand III. der Familie Auersperg zugestanden und hatten immer noch Bestand! Sie waren Bestandteil des Lehens an die Auersperger mit dem Herzogtum Münsterberg und Frankenstein in Schlesien.
Alex hatte Erfolg mit seiner Methode. Die öffentliche Meinung wechselte auf die Seite des Prinzen. Eine Niederlage der Kläger war zumindest nicht mehr unmöglich.
Die Schlussverhandlung fand in Passau statt. Das Richterkollegium bestand aus vier kirchlichen und drei weltlichen Persönlichkeiten. Alex liess sich von der hohen gesellschaftlichen Stellung dieser Leute nicht beeindrucken. Noch weniger von der Phalanx der gegnerischen Advokate. Seine Argumentation war sachlich und nüchtern. Das Recht des Kaisers, Privilegien zu vergeben, durfte nicht angezweifelt und schon gar nicht angefochten werden. Seine Rhetorik war einfach, immer genau auf das Ziel gerichtet. Alle seine Freunde und Gön- ner, die den langen Weg nach Passau nicht gescheut hatten, genossen den Auf- tritt ihres Schützlings ohne Vorbehalt. Es kam, wie es kommen musste. Das Urteil fiel zu Gunsten des Herzogs aus. Die Kosten wurden der Krone auf- gebürdet. Das Urteil war abschliessend und nicht anfechtbar, es war folglich endgültig und konnte nicht rückgängig gemacht werden!
Der Sieg von Joseph Alex war ein totaler – ohne Wenn und Aber. Kaum hatte sich der Saal beruhigt, beugte sich Alex nach vorne zu seinem Klienten und flüsterte in sein Ohr: «Wollen Hoheit nun ein wahres Meisterstück vollbrin- gen?» «Natürlich, wie stellen Sie sich diesen Streich vor?»
«Stehen Sie auf und machen Sie dem Gericht klar, dass es Ihnen nur um das Recht ging und nicht um die Privilegien. Sie würden nun öffentlich und un- widerruflich darauf zu Gunsten der Krone verzichten.»
Dem Herzog blieb eine Weile vor Überraschung der Mund offen. Schnell be- griff er dann die unglaubliche Genialität dieser Aktion. Er verlangte das Wort. Stand auf und machte die vorgeschlagene Erklärung. Dies mit der Gestik und der dramatischen Ernsthaftigkeit eines staatlich geprüften Burgschauspielers. Der ganze Saal tobte vor Begeisterung. Der Herzog selbst war nun felsenfest überzeugt, diesem Stück das bestmögliche Ende bereitet zu haben.
Auf der Stelle schrieb er eine Anweisung an seine Bank in Wien. Er bezahlte seinem Anwalt die stolze Summe von hunderttausend Gulden.
Zu Hause erwartete Joseph Alex der Befehl Ihrer Majestät, sich zur Audienz
Schönbrunn
in der Hofburg einzufinden. Pünktlich wie ein Maurer stand er zur gegebenen Zeit im Vorzimmer und wartete geduldig, stundenlang. Dann endlich wurde er gerufen. Im Zimmer fand er Maria Theresia sitzend am Tisch. Ihr Mann, der Kaiser, stand daneben. Im dunklen Hintergrund waren einige Würdenträger und Hofbeamte kaum auszumachen.
Joseph Alex stand vor den Majestäten in gebückter Haltung und wartete dar- auf, angesprochen zu werden.
Endlich hörte er sie reden. Eine zarte einschmeichelnde Stimme. «Mit Ihrem Sieg im Prozess gegen Prinz Auersperg haben Sie Mut und Tatkraft gezeigt. Sie haben bewiesen, dass in unserm Land Recht auch Recht bleibt. Ich empfinde grösste Hochachtung für Ihre Leistung. Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie ver- hindern konnten, dass ich selbst das Recht beuge. Dank Ihnen wurde bewiesen, dass es im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation etwas Erhabeneres gibt als die Wünsche einer dummen Frau, nämlich das Recht.
Vorher will ich Ihnen die Ernennung zum Hofrat überreichen und hoffe, dass Sie uns noch lange erhalten bleiben.»
«Majestät, ich lebe fortan nur noch für die Krone!»
«Gut», sagte Maria Theresia, «aber wir sind noch nicht zu Ende. In diesem Raum gibt es einen Mann, den herzubringen uns viel Mühe verursacht hat, von den Kosten ganz zu schweigen.» Sie drehte sich um und rief: «Haupt- mann von Badenthal, kommen Sie her und schliessen Sie Ihren Ausreisser in die Arme. Lange genug haben Sie darauf warten müssen!»
Joseph Alex traute seinen Augen kaum, als er seinen alten Vater mit schweren Schritten auf sich zukommen sah, rechts und links begleitet von seinen Gön- nern und seinem Klienten. Diese Begleitung war nicht etwa überflüssig. Stefan wäre schon beinahe zweimal auf dem glatten Parkett hingefallen, wäre er nicht von seinen Begleitern gestützt worden. Vater und Sohn waren kaltblütig genug, sich zu beherrschen. Ein Blinder hätte erkennen können, dass beide nasse Au- gen hatten.
Es herrschte einige Minuten Ruhe, um den beiden das Wiedersehen zu erleich- tern. Der Vater schloss seinen Sohn noch einmal in die Arme. Sodann sprach er zu den Majestäten gewendet seinen Dank für die Ehrungen aus, die ihm über seinen Sohn zuteil würden. Er hätte sich das nie träumen lassen.
Die Kaiserin machte dieser Szene ein Ende, indem sie sagte: «Ihr Sohn wird Sie zurück in die Heimat begleiten. Auf der Rückreise nach Wien wird er Graf von Batthyány in Zürich treffen – und mit ihm zusammen die Verhandlungen mit der Eidgenossenschaft führen, um die Überführung der Gebeine derjenigen Habsburger nach Wien in die Hand nehmen, die noch in der Abtei Königsfel- den ruhen.»
Eine winzige Geste, ein kleines Nicken. Die Audienz war zu Ende.
So kam es, dass für Joseph Alex alle Voraussetzungen bestanden, in Wien sein Glück zu machen. Er verpasste sie nicht. Als Hofrat verliess er die Audienz. Seine Kanzlei wurde bekannt. Er vergrösserte diese durch gutes Personal. Die Mehrzahl der Aufträge, die hereinkamen, waren Fälle für die Krone. Am 18. Juli 1750 wurde er in den Adelstand gehoben. Ab jetzt firmierte er als Joseph Alexis, Freiherr Julier von Badenthal.
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