Ferdinand, Freiherr von Werra – Kapitel 11

1788

Emsiges Treiben auf dem Markt vor der Sebastianskapelle. So wie es sich für Brig im Juni gehört. Kein Hauch eines Windes. Sommerwetter, Reisewetter. Ferdinand hatte am Vorabend seine Koffer gepackt. Heute sollte es wieder nach Hause, nach Salgesch zur Familie gehen. Sieben Jahre hatte er in Brig studiert. Nur ab und zu fand man ihn während den Ferien in Salgesch. Die meisten da- von hatte er bei Familien von anderen Studenten verbracht. Auch war er oft in Leuk bei einigen Cousins gewesen. Vor allem besuchte er oft den Majorshof. Der Familie von Cousin Colonel war er näher gekommen.

Ferdinand überfiel eine ungewohnte, seltsame und wehmütige Empfindung, Brig zu verlassen.

Blick gegen Simplon mit Stockaplperschloss

So schnell würde er nicht wieder an den Fuss des Simplons zurückkommen. Eben hatte es elf geschlagen. Valentin Aufdereggen führte das Karriol aus dem Hause Stockalper, auf welchem er mit seinem Gepäck Rotten abwärts nach Salgesch reiste. Väli war einer der drei Männer, die sich in Brig um die Pferde- stallungen mit allem, was dazu gehörte, kümmerten. Sie waren Stallknechte, Kutscher und Kuriere in einer Person. Ferdinand hatte sich während seiner Studienzeit mit den drei Burschen angefreundet. Damals, als er zweimal die Woche mithalf, die Pferde zu bewegen. Dank seinen Beziehungen zu Rufus standen ihm heute Kutscher, Pferd und Wagen für seine Nachhausefahrt zur Verfügung. Valentin war seit fünf Jahren bei Stockalpers im Dienst und ein paar Jahre älter als sein Fahrgast. Er liebte es zu plaudern, zu erzählen, zu unter- halten. Genau die Sorte Mann, die man für eine längere Wagenfahrt braucht.

«Wir werden sechs bis sechseinhalb Stunden brauchen, bis wir in Salgesch sein werden. Ich schlage vor, wir fahren über Turtmann nach Leuk. Dann über Va- ren nach Salgesch.» «Einverstanden, du bist der Kutscher.» Ferdinand hätte gerne schweigsam vor sich hin sinniert. Das gelang nicht. Valentin wollte ein- fach quatschen. «Du wirst uns fehlen, Ferdi. Du warst immer ein guter Kame- rad und hast uns viel geholfen. Es ist dir gelungen, mit uns als unseresgleichen umzugehen. Nie hast du uns zu spüren gegeben, dass du eigentlich zur Herr- schaft gehörst. Du hast Stil. Ab jetzt wirst du sicher eigene Bedienstete haben und eine Familie gründen.» «Noch ist es nicht so weit. Ich möchte vorher noch an die Uni und Jura studieren. Dann sehen wir weiter.» «Es hat sich her- umgesprochen, dass Marie-Claire ein Auge auf dich geworfen hat.»

«Marie-Claire?» «So nennen wir die jüngste Tochter von Kaspar Jost. Da staunst du, was wir so alles wissen. Unsere Informationsquellen sind die Frauen im Personal. Allen voran die Köchin. Mit der muss man sich aus den verschiedensten Gründen gut stellen. Wenn du bei der in Ungnade fällst, riskierst du zu verhungern. Sie besitzt alle Tricks, dir das Essen zu vermiesen. Nur noch steinhartes Brot, leicht angefaulter Salat, angebrannte Teigwaren. Du weisst schon. Kommt zweitens dazu, sie ist die Drehscheibe der Gerüchte und der Neuigkeiten. Auch wir in den Stallungen leisten unseren Beitrag, die Infor- mationen zu mehren, gehen wir doch als Kuriere in allen Haushaltsküchen der Herrschaften ein und aus. Die Oberen haben keine Ahnung davon, wie wir unsere Nachrichtenpuzzles zusammenstellen und ausnützen. Nur eines ist verboten: Die Indiskretion. Gib nie die Quelle deines Wissens bekannt. Nie damit im Wirtshaus angeben. Dafür immer offene Ohren und Augen haben.

Dir daraus einen Reim schmieden. Deine Fakten nur mit einem, höchstens zwei zuverlässigen Freunden teilen, analysieren, auswerten und die möglichen Folgen zusammenstellen. Wir wissen fast alles, was im Hause Stockalper läuft. Es ist eine reine Männerwirtschaft. Es geht immer um Mehrung. Mehrung des Vermögens durch eine gute Heirat mit einer reichen Frau, Mehrung der Macht durch Verschwägerung der Familien unter sich. Mehrung des Ansehens durch prunkvolles Auftreten und durch galante Gespräche in den Salons. Diese Auf- gaben können nur der Chef der Familie und seine Söhne erfüllen. Die Töchter, wenn sie standesgemäss verheiratet werden sollen, kosten eine Menge Geld. Die notwendige Mitgift bedeutet ein gehöriger Aderlass für das eigene Gut. Am kostengünstigsten kommt man davon, wenn man sie ins Kloster abserviert. Kreszentia, die Schwester von Marie-Claire, ist ein Beispiel dafür. Sie ist schon seit neun Jahren im Kloster Kaufbüren. Auch Marie-Claire wird in ein paar Jahren den Schleier nehmen müssen. Da wette ich 10 Batzen drauf.»

Ferdinand hatte den Monolog nicht unterbrochen und sich vorgenommen, bei seinem eigenen Gesinde diese Lektion nicht zu vergessen. Er nahm sich vor, in naher Zukunft eine Familie gründen. Mit dem eben Gelernten wusste er nun, was zu tun war, wenn es wirklich geheim und diskret, in camera caritatis, zu- gehen sollte.

«Hier in Visp gibt es das ‹Hotel Sonne›. Die haben eine gute Brasserie. Ich führe Attila dorthin.»

Um halb zwei waren Attila und die beiden Männer gut verpflegt. Weiter ging es. Rotten abwärts nach Susten bei Leuk.

Raron mit Werrahaus und Wohnturm Roten

Eine Stunde später tauchte die markante Kirche von Raron am Nordufer des Rottens auf. Sie liegt hocherhaben über dem Tal. Unverkennbar ihre Silhou- ette. Für die Gläubigen allerdings artet der Kirchgang in eine kleine Bergtour aus. Ein Bussopfer für die Betagten, schon bevor der Gottesdienst beginnt. Die Angehörigen der Familie Roten sind dieser Strapaze entbunden. Sie erreichen die Kirche innerhalb von fünf Minuten. Ihr Wohnturm steht gleich neben dem Friedhof.

«Dort hat Alex eine Anstellung in der Kanzlei des Rechtsanwalts Peter Roten gefunden. Er ist schon über zwei Jahre nicht mehr im Balethaus erschienen. Ich glaube, da ist etwas im Busch.» «Das würde mich nicht wundern. Alex hat immer gerne den Mädchen und den jungen Zofen schöne Augen gemacht. In Raron wird er bestimmt etwas aufgabeln.» «Väli, schau mal links, da gabs vor ein paar Wochen einen tüchtigen Brand. Nur ein verrusstes Gebälk, ein schwarzes Skelett steht noch.» «Das ist das Gehöft Schnidrigu. Es ist völlig ausgebrannt. Viel Vieh ist erstickt. Die Bauersleuten sind mit heiler Haut und grossem Schreck davongekommen. Sie haben Haus und Hof verloren. Schreck- lich. Das Rottental ist in den letzten Monaten mehrmals von den verschie- densten Landplagen heimgesucht worden. Von Erdbeben, Feuersbrünsten und Überschwemmungen. Unser Land wurde von Naturkatastrophen arg gebeu- telt. Vor zwei Wochen ist die Hauptstadt östlich der Sitter samt den Schlössern von Tourbillon fast völlig niedergebrannt.» «Ich weiss. Zwei Tage nach der Katastrophe hat Pater Norbert, er war zum Bischof kommandiert gewesen, als Augenzeuge davon berichtet.

Die Ursache des Feuers ist unbekannt. Irgendwo muss ein offenes Feuer die Umgebung ergriffen haben. Das Problem war der Wind. Ein äusserst heftiger Föhnsturm muss das Feuer regelrecht angeblasen haben. Mit einer ausserge- wöhnlichen Geschwindigkeit breitete sich der Brand aus. Sogar die Burgen Maloria und Tourbillon wurden erfasst. Mehr als 120 Häuser und über 100 Scheunen wurden zerstört. Das linke Sitterufer gleicht der Hölle. Es riecht pe- netrant nach Verbranntem. Dem Burgerrat steht eine Herkulesarbeit ins Haus. Der Wiederaufbau der Rue du Grand Pont wird ihn Jahre beschäftigen.» So viel die Aussagen des Paters Norbert im Kollegium. «Feuer und Wind fressen geschwind», antwortete sichtlich beeindruckt Väli.

Unterdessen ratterte unser Karriol über die Holzbrücke der Rhone der Burg- schaft Leuk entgegen.

Leuk Stadt und Varen

Im Städtchen herrschte der übliche Abendbetrieb. Hausfrauen kamen aus dem Konsum. Sie begaben sich in ihre Küchen, das Abendessen zu bereiten. In den Ställe muhten die Kühe, als wollten sie sagen: «Wir haben Durst». «Zuerst melken, dann tränken», dachten die Knechte. Die Katzen schlichen aus ihren Verstecken und versammelten sich im Kuhstall. Sie miauten, einen Schluck Milch bettelnd. Der Geisshirt kam mit seinen Tieren zurück. Diese verteil- ten sich selbstständig in ihren Ställen. Unser Wagen hatte sich durch diese Be- triebsamkeit in die Varengasse vorgekämpft. Als sie am Marjorshof vorbeifuh- ren, ergriff Väli wieder das Wort. «Das ist das schönste Schloss in der ganzen Burgschaft. Und auch der gepflegteste Haushalt in der ganzen Umgebung. Ein Vorbild. Saubere Ställe, gesunde Pferde, neben der Küche ein gutes Personal- zimmer. Ich war hier schon ein paar Mal als Kurier anwesend. Botengänge für den alten Herrn. Ab und zu auch Kutschenfahrten für die Herrschaft. In der Küche hier herrscht die vollkommenste Köchin. Sie versteht sich nicht nur aufs Kochen. Sie ist auch eine liebenswerte Gastgeberin für das Personal. Vor allem aber ist sie die Informationszentrale von Leuca fortis. Alle Stallknechte, Kurie- re und Fuhrhalter kommen gut mit ihr zurecht. Eine wahre Perle.» Väli war richtig ins Schwärmen geraten. «Da kann ich nur beipflichten», sagte Ferdi,

«der Oberst ist mein Cousin. Während den grossen Ferien im Kollegi war ich hier oft zu Gast. Das Haus wird geführt wie ein Regiment. Disziplin, Pünkt- lichkeit und Ordnung. Herr Werra ist ein echter Patriarch. So soll mein Haus- halt auch einmal aussehen.» «Mein lieber Ferdi, ohne Geld, ich meine ohne Reichtum geht das nicht. Und wie kommt man zu solchem? Eine gute Partie heiraten vielleicht. Oder eine flotte Erbschaft antreten. Wünsche viel Glück.»

Valentin war sich nicht bewusst, wie hellseherisch er in die Welt hinaus plau- derte. Die Dala war überquert. Varen lag hinter ihnen.

Gegen sechs fuhren sie im Hof von Salgesch vor. Sie wurden von Viktor empfangen. Er trug das Gepäck ins Haus. Valentin und Ferdinand folgten ihm und traten gleich in die Küche ein. Ein grosses Hallo. Ludwina stürzte sich auf Va- lentin. «Dich habe ich schon lange nicht mehr gesehen. Wir haben dich er- wartet. Du kannst bei uns nächtigen. Setze dich, ich habe da noch etwas heissen Tee. Ferdinand zurück aus Brig. Ein richtiger Maturand. Willkommen heim.» Ferdinand meinte, in einer falschen Küche gelandet zu sein. Seine Rückkehr nach sieben Jahren wurde gerade noch als Nebensatz erwähnt. Valentin da- gegen wie ein Prälat empfangen. Zu dritt sassen sie am Küchentisch, Valen- tin und Ludwina ins Gespräch vertieft, als die Türe zur Stube aufging und ein junges Mädchen, ein ansehnlicher Backfisch, eintrat. Sie blieb im Türrahmen stehen, überblickte skeptisch die Runde. «Das muss mein grosser Bruder aus Brig sein», murmelte sie mehr zu sich als zu den Gästen. Machte einen höf- lichen Knicks und setzte sich auf den freien Stuhl. Ferdinand glaubte seinen Augen nicht. Er wurde begrüsst und behandelt wie ein Gast. Wie ein entfernter Verwandter. Eine verlegene Stille stellte sich ein. Ludwina löste die Spannung.

«Ich zeige euch die Zimmer.»

Varen und Rhonetal Richtung Sitten

Die Köchin hatte Ferdinand informiert, Papa Alex werde heute Abend nicht zum Essen erscheinen. Er sei nach Leuk geritten und werde erst spät abends nach Hause kommen. Die Stute Lisa, sein Lieblingspferd der Jugend, war nicht mehr im Stall. Sie war auf ihr Altersteil gesetzt und fristete ein Dasein auf der Weide beim Schloss in Agarn, zusammen mit ein paar ausgedienten Tieren von Cousin Colonel. Der Gutsverwalter hatte dort eine Koppel für ausgediente Pferde und Maulesel ausgesteckt. Lisas Platz im Hof hatte jetzt ein älterer Wal- lache, Felix, inne. Der war beim Oberst in Leuk ausgemustert worden. Immer- hin hatte der Pferdewechsel nichts gekostet. Ein Geschenk aus dem Majorshof. Der Gaul war durchaus noch für Fahrten und Ausritte brauchbar. «Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul», dachte Ferdinand. Quelle tristesse!

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Ferdinand, Freiherr von Werra – Kapitel 10

1719

In der Erzählung spielt Joseph Alexis Julier von Leukerbad eine gewichtige Rol- le. Er kam in Wien zu Geld und Ansehen. Wie es dazu kam, soll der folgende Bericht erklären. Er wurde dem Autor an einem Ostermontag von Gaston Ju- lier, einem Nachfahre von Alex in Leuk, mündlich übermittelt. Die Geschichte beginnt im Ferienhaus der Familie Julier in Leukerbad.

Die Geräusche im Hause unterschieden sich nur unwesentlich von den all- täglichen. Die zufriedenen Gesichter der Bewohner liessen auf ein ausser- ordentliches Ereignis schliessen. Besonders die Anwesenheit einer massigen Klatschtante, der Hebamme des Dorfes, liess erahnen, um was es sich han- deln könnte! Vorausgesetzt, man kannte sie! Mit einem silbernen Becher in der Rechten, die linke Faust auf der fetten Hüfte, schlürfte sie vernehmlich den gezuckerten Glühwein und machte einen zerknirschten Eindruck, als ob sie selbst die Leiden und Nöte einer Geburt hätte erdulden müssen.

Die Frau des Hauses, Maria, eine geborene Oggier aus Leuk, hatte soeben die Familie um ein weiteres Mitglied bereichert. Dieser neugeborene Sohn war das Besondere, nicht etwa die Geburt an sich. Für Maria war es nicht das erste, noch sollte es das letzte Kind bleiben. Die Geburten stellten sich Jahr für Jahr ein. Nur die hohe Kindersterblichkeit dieser Tage hielt die Zahl des Nach- wuchses im tragbaren Rahmen. Stefan, der Vater, Zenden-Hauptmann von Leuk, Badrichter von Leukerbad, Notar und Jäger aus Leidenschaft, ertrug mit Geduld und Gleichmut die Sorgen seiner häufigen Vaterschaften. Die vielen Beweise seiner Zeugungskraft gefährdeten seine Lebenshaltung genau so we- nig, wie er Gefahr lief, in dem vielen Wein, den er Zeit seines Lebens in klei- neren und grösseren Mengen genossen hatte, zu ertrinken. Damals wie heute hatte die Frau an den Folgen der kurzen Freude mehr zu leiden als der Herr der Schöpfung. Stefan also erlebte diesen Tag mit stoischer Ruhe und nahm mit der Routine eines biblischen Patriarchen die Glückwünsche der sich einfinden- den Verwandten und Bekannten entgegen.

Diese ebenfalls im Tal wohnend, aber zurzeit in Leukerbad weilend, umlagerten die Eltern und das Neugeborene und rätselten laut, wem es nun wohl ähnlicher sein könnte – ein Hin und Her, das kein Ende nehmen wollte. Maria freute sich über das Interesse, das Gesumme verursachte ihr jedoch Kopfschmerzen. Sie nahm sich vor, sich bei Gelegenheit zu revanchieren. Unbeeindruckt vom Geschehen rings herum, gähnte der kleine Heide respektlos in die Gesichter der Matronen, die ihn partout umarmen wollten.

Leukerbad

Seine Frechheit ging so weit, in die Nase der Frau Amtmann zu niesen, die heimlich dem Schnupftabak huldigte. Dieser Sucht zu huldigen war vom Bi- schof von Sitten per Dekret untersagt. Er war nicht nur geistlich, sondern auch weltlich die Nummer eins im Rhonetal. Das Zitat «unter dem Krummstab ist gut leben» war weit herum bekannt, traf aber für die Frau Amtmann nicht zu, die den Sprössling mit Verachtung strafte und sich mit dem Gedanken tröstete, dass das Äffchen noch nicht getauft und demzufolge noch dem Teufel gehörte.

 

Es galt nun, diesem Umstand Rechnung zu tragen und den Kleinen den Fän- gen des Satans zu entreissen. Aber wie? Leukerbad war zwar eine selbstständige Pfarrei, der Pfarrer aber seit Wochen krank, geplagt vom Rheumatismus. Kein noch so wundersames Wasser, das hier aus dem Boden sprudelt, konnte seine Schmerzen lindern. Zudem sollte das Kind im Hauptort getauft werden, nicht zuletzt, weil die Paten dort wohnten und auf das Ereignis warteten.

Die drei Wegstunden nach Leuk konnten einen Mann wie Stefan nicht beein- drucken. Auf unzähligen Pirschgängen hatte er sich seine Kondition antrai- niert, die einem «starken Baschi» nur wenig nachsieht.

 

Er verkündete also, seinen Sohn «per pedes» nach Leuk und zurückzutragen, sich nicht zu verweilen und den Kleinen in kürzester Zeit in die Arme der Mut- ter zurückzulegen, getauft und der Hölle entrissen!

Die vorgeschlagenen Transportarten wie Maulesel, Tragkorb und Sänfte wur- den von ihm abgelehnt, da sie nicht schnell genug und vor allem seiner un- würdig seien. Sein Vorschlag, für ihn bereits eine Tatsache, ging dahin, seinen Sohn in den Rucksack zu packen. Da, wie erwartet von keiner Seite Opposition gemacht wurde, nahm er sich vor, diesen Plan gleich am nächsten Morgen in die Tat umzusetzen.

Nach einem kurzen Kampf mit sich selbst entschied er sich, sein Gewehr zu Hause zu lassen. Es schien ihm nicht richtig, einen Akt der Religion mit seiner liebsten Beschäftigung zu verknüpfen. Auf einem Stundenmarsch in dieser Ge- gend hätte es zwangsläufig etwas zu jagen geben müssen. Es hätte dann aber ein Zehn-und-mehr-Stunden-Marsch daraus werden können. Beim Verlassen des Hauses streifte er noch einmal mit verstohlenem Blick seinen Schiessprügel in der Ecke, bevor er endgültig das Haus verliess und mit langen Schritten Rich- tung Inden entschwand. Das Wild, gefiedert und behaart, das sich normaler- weise beim Auftauchen seiner Fellmütze verdünnisierte, schien zu wissen, dass heute keine Gefahr drohte. Fuchs und Hase kreuzten mehrmals seinen Weg, und ein Wiesel war impertinent genug, eine lange Strecke vor ihm herzulaufen. Wahrlich, für jeden Nimrod eine mehr als ärgerliche Sache. Es reute ihn nun doch, seinen Freund, die Flinte, zu Hause gelassen zu haben.

An der Barbarakapelle vorbei, sah er bald den mächtigen Turm der Kirche von Leuk und daneben die vier Ecken des «Schälmiturru», wie der ehemalige Sommersitz des Bischofs von Sitten im Volksmund auch genannt wird. Bald befand er sich vor dem Hauptportal der Kirche von Leuk. Da er noch die Paten

 

holen wollte, hing er kurzentschlossen den Rucksack samt Inhalt an den Tür- griff der Kirchentüre. Zusammen mit den Paten näherte er sich wieder dem Gotteshaus und einer der Paten, Herr Morency, fragte:

«Wo ist eigentlich das Kind?»

«Es wartet bei der Kirche auf uns», sagte Stefan lachend.

«Hoffentlich», meinte die Patin, Frau Morency, «aber ich sehe niemanden vor der Kirche.» Stefan lachte aus vollem Hals, zeigte auf den hängenden Sack an der Türe und sagte:

«Dort habe ich ihn hingehängt, und wie Sie sehen oder eben nicht sehen, hat ihn niemand gestört!» Maria-Madeleine Morency wurde grau im Gesicht und protestierte lauthals: «Mon Dieu – mon Dieu, wie kann man so etwas ma- chen? Wie leicht hätte dem Kind etwas geschehen können!»

Inzwischen war auch der hochwürdige Herr Pfarrer beim Portal eingetroffen, zusammen mit dem zweiten Paten, Herrn Loretan. Diese zwei wussten jetzt nicht genau, ob sie mit Madame schimpfen oder mit Stefan lachen sollten. Die Situation war auf jeden Fall nicht alltäglich, fünf Personen um einen Täufling, von dem nicht einmal die Nasenspitze zu sehen war. Die Lage beruhigte sich. Madame holte den Kleinen aus dem nicht ungemütlichen Sack, und die Taufe wurde vollzogen. Er wurde auf den Namen Joseph Alex getauft.

Alex wurde sein Rufname. Nach Beendigung der Zeremonie nahm Stefan sei- nen Alex wieder in Empfang, verfrachtete ihn zurück in den Sack, dies unge- achtet der Proteste. Er verabschiedete sich von der Gesellschaft und nahm den Weg zurück nach Leukerbad unter die Füsse.

 

Niemals zuvor, so schien es ihm zumindest, war das Tal der Dala so voll jagd- baren Wildes gewesen. Die Wut im Bauch beflügelte seine Schritte.

Unterhalb von Inden am Ufer des Baches fing der Kleine an zu heulen. Der Vater, der die Hoffnung gehabt hatte, ohne diese Musik nach Hause zu kom- men, sah sich in seinen Erwartungen getäuscht. Alex schrie, was die Lunge her- gab, und übertönte alle Geräusche der Mutter Natur. Es half nichts, das Kind musste raus aus dem Sack. Er nahm seinen Sohn auf den Schoss und wiegte ihn, dabei sang er ihm ein Liedchen vor, das er von seiner Frau oft gehört hatte. Während dieser ihm so fremden Beschäftigung schaute er sich die Umgebung an. Von einem Baum sah er sich von zwei Eichhörnchen spöttisch beobachtet. Dies hob seine Laune keineswegs. Sein Sprössling war jetzt bei Fortissimo an- gekommen, lauter, so schien es ihm, konnte es ganz einfach nicht werden. Die

 

Bärenstimme seines Vaters konnte ihn nicht beruhigen. Seine eigene erlahmte aber mit der Zeit, und völlig ermattet sank er erneut in Morpheus‘ Arme. Blitz- schnell packte ihn Stefan wieder in den Sack, und in wenigen Minuten war er im Dorf Inden. Beim erstbesten Haus drang er ein und brüllte: «Hallo, ist hier jemand zu Hause?» Er hörte von oben eine weibliche Stimme, die er zu kennen glaubte. Ohne Umschweife stieg er nach oben und kam in ein Zimmer, in dem eine junge Frau ihr Kind stillte. «Gut», meinte er, «hier ist noch ein Kind, das nichts gegen Ihre zweite Quelle einzuwenden hat!»

Er reichte ihr seinen Buben, den er aus den Tiefen seines Rucksacks hervorhol- te und der gerade zu einer weiteren Soloarie ansetzte.

«Bu-jässus – jässus», sagte die Frau nur und nahm den Kleinen zur Fütterung entgegen. Stefan setzte sich hin und erzählte der Wöchnerin, Lisbeth hiess sie, die Geschehnisse des Tages und fragte:

«Ihr Mann hat nicht zufällig ein Gewehr im Haus?»

«Doch, doch, hinter Ihnen im Kasten ist das Gewehr samt Pulver und Kugeln.»

«Sagen Sie Ihrem Hans, dass ich es ihm bei Gelegenheit wieder zurückbringen werde.»

Er packte seinen gesättigten Sohn wieder in den Sack und verliess samt Waffe das Haus. Bald hatte er Gelegenheit, einen Schuss auf einen Eichelhäher abzugeben. Aber wegen der fremden ungewohnten Waffe verletzte er den Vogel bloss am Flü- gel. Dieser schlug mit dem gesunden Flügel und kreischte und machte damit alle Tiere rebellisch. Ein Hase hüpfte vor Schreck vor die Füsse des Jägers und sprang in Richtung Dala, den Abhang hinunter. Stefan zögerte einen Augenblick. Hing dann seinen Rucksack an einen Ast und setzte Meister Lampe nach, sich an Wurzeln und Grasbüschel haltend, den Hang hinunter. Mehr als einmal dachte er daran aufzuge- ben, aber der Jäger in ihm war erwacht und konnte nicht von seinem Opfer lassen. Er vergass Zeit und Kind und wollte vor allem nicht mit leeren Händen zurück. Unten am Wasser verlor er viel Zeit auf der Suche nach seinem Braten. Schlussend- lich musste er doch aufgeben. Er kletterte wieder den Hang hinauf und erreichte den Weg unweit der Stelle, wo er den Sack verlassen hatte. Aber, oh Schreck, dieser war weg und mit ihm sein Alex. Er marschierte zurück nach Inden. Ihm war nicht wohl beim Gedanken, ohne seinen Sohn nach Hause gehen zu müssen. Was wohl seine Frau dazu sagen würde? Es begegneten ihm einige Leute, aber sie versicherten hoch und heilig, niemanden gesehen zu haben. Schweren Herzens nahm er nun den Heimweg unter die Füsse und suchte unterwegs nach Formulierungen, um sei- ner Frau die schlechte Nachricht schonend beizubringen.

Beim Betreten des Zimmers sah er als Erstes seine Frau mit Alex in den Armen. Wie konnte das geschehen? Gleichzeitig sah er den Pfarrer von Leuk, daneben den Paten, Herrn Loretan.

«Wie ist das möglich, Hochwürden, vor fünf Stunden habe ich Sie in Leuk verlassen und nun sind Sie hier in meinem Hause?»

Der Pate übernahm es, die Situation zu klären. Kaum sei er, Stefan, von Leuk weg gewesen, habe der Pfarrer Besuch aus Leukerbad erhalten, der ihn gebe- ten hätte, dort einige Besuche zu machen, da ja bekanntlich der Pfarrer von Leukerbad krank sei. Er habe die Gelegenheit benutzt, den Pfarrer zu begleiten und sie hätten gehofft, ihn, Stefan, noch einzuholen. Bei dem Tempo, das er vorgelegt habe, sei dies leider nicht möglich gewesen. Kurz nach Inden hätten sie dann den bekannten Rucksack am Ast hängend vorgefunden. Sie hätten ge- dacht, es wäre vielleicht besser, den Kleinen seiner Mutter sofort nach Hause zu bringen, statt ihn dort hängen zu lassen. Voilà!!

Stefan meinte:

«Und Sie, Hochwürden, haben die Gelegenheit benutzt, mir eine heilsame Lehre zu erteilen. Nun, wir wollen die Sache vergessen, aber Sie haben mir ei- nen Schrecken eingejagt, den ich so schnell nicht vergessen werde.»

 

 

Unser Alex verbrachte die ersten achtzehn Jahre im Schosse der Familie in Varen, Leukerbad und Leuk, wo er beim Pfarrer seinen ersten Unterricht bekam. An- schliessend wurde er, zusammen mit seinem Vetter Christian aus der älteren Julier- Familienlinie, nach Sitten geschickt, um ein klassisches Studium aufzunehmen. Die beiden waren gleich alt. Sie wohnten bei einem entfernten Verwandten, dem Priester und Domherr Loretan. Christian besuchte später die Universität in Mailand, wurde Geistlicher, im Jahre 1751 selbst Domherr und 1754 Pfarrer und Dekan in Leuk. Er starb 1777.

Alex überlebte ihn um 21 Jahre. Stefan träumte von einer ähnlichen Karriere für seinen Sohn Alex. Der Älteste, Johann, im Jahr 1715 geboren, sollte einst das Erbe übernehmen.

Er, der Vater, sah Alex bereits als Nachfolger seiner Eminenz, des Bischofs von Sitten, souveräner Fürst des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Der Gedanke, dass er, Stefan Julier, Vater eines Fürsten werden könnte, berauschte ihn geradezu. Kein Wahrsager war da, um ihn auf weniger grosse Ehren vorzubereiten. Die zwei waren also in Sitten und lasen die Schriften der Antike, Homer, Virgil,

 

Cicero, Horaz und auch Julius Cäsar, der, wie sie mit grösster Überraschung feststellten, ebenfalls Julier als Familienname gehabt hatte.

Da Cäsar, auf seinen Zügen nach Gallien, unzweifelhaft im Walis gewesen war, schwelgten sie in der Vorstellung, Abkömmlinge dieses Manns zu sein, der sei- ne Herkunft auf das trojanische Königshaus zurückführte.

Die französische Sprache war für sie beide ein Schrecken ohne Ende, für Alex mehr als für Christian. Da Sitten fest in deutscher, sprich Oberwalliser Hand war, konnten sie sich damit abfinden. Im Herbst war man wieder in Varen. Vater Stefan, der für sein Geld etwas sehen wollte, nahm seinen Sohn regelmäs- sig ins Gebet. Wenn er mit dem Resultat zufrieden war, bequemte er sich zum höchsten Lob, dessen er fähig war, und sagte: «Morgen kommst du mit mir auf die Jagd.» Etliche Male gab sich der Jüngling mit dieser Belohnung zufrieden. Doch mit den Jahren wuchs auch der Bedarf in andere Richtungen.

Wie es bei Schiller heisst: «Doch mit des Geschickes Mächten ist kein ewiger Bund zu flechten und das Unglück schreitet schnell.»

Die Kleider wurden zu Hause gefertigt, der Stoff zu Hause gewoben. Sie dien- ten einigen Generationen und wurden dann noch für die Kinder geändert. Geld für so überflüssige Sachen wie Kleider auszugeben, kam nicht in Frage. Stefan machte hier keine Ausnahme. Er bezahlte, was immer das Kollegium in Sitten kostete und was sein Verwandter für Kost und Logis haben musste. Sein Sohn bekleidete er, das heisst die Mutter, mit den abgetragenen Anzügen seiner Ahnen, bei besonderen Anlässen mit einem Anzug des Vaters. Taschen- geld kannte er nicht.

Alex bewegte sich in einer geistigen Welt, ausgelöst durch das Studium, in ori- entalischer Pracht, zwischen Olymp und Athen, zwischen Kapitol und Forum– sein fadenscheiniger Anzug wollte ihm nicht in diese Umgebung passen, zwischen Purpur und Seide! Dieser Sinn für das Schöne und Teure vergiftete sein Leben und seine Seele und brachte ihm seine armselige Erscheinung so richtig zum Bewusstsein. Erschwerend kam hinzu, dass gegenüber des Domherrn der Bürgermeister mit drei Töchtern wohnte. Das waren echte Zicken, zwar hübsch, aber äusserst arrogant. Diese Gänse hatten es stets auf Alex abgesehen und machten ihm das Leben zur Hölle. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit lachten sie ihn aus. Er hatte schon diverse Methoden ausgedacht, sich dieser Läuse im Pelz zu entledigen – aber nichts half, sie liessen sich nicht abschüt- teln. Der obligate Studentenmantel, ein schwarzer Fetzen, den zu tragen man verpflichtet war, konnte man anziehen, wie man wollte, Elegantes wurde nicht daraus. Er verdeckte oft die noch schäbigeren Kleider. Die drei Hexen, wie er sie im Stillen nannte, tuschelten immer, wenn er in greifbare Nähe kam, etwas von einem eleganten Spaniolen.Sitten

Nun wollte es der Zufall, oder war es die Macht des Schicksals, dass ein Tuch- händler an der Rue du Grand Pont ein Stück Tuch offerierte, das Nonplusultra auf dem Markt! Und auch noch sehr günstig. Alex wehrte sich jedoch gegen dieses Ansinnen, sich ohne Erlaubnis des Vaters neu einzukleiden. Mit einem Seufzer entsagte er der Versuchung, einem Seufzer, der aber dem Händler viel- versprechend vorkam. Immer wieder versuchte er, unseren Helden von seiner Offerte zu überzeugen, bis hin zur Zusicherung, den Handel auch auf Kredit abwickeln zu wollen und den Schuldner nicht allzu sehr zu drängen.

Am Vortag der verhängnisvollen Entscheidung blieb Alex zu Hause im Bett und machte in Gedanken alle möglichen und unmöglichen Überlegungen, um diesen Schritt zu rechtfertigen.

Fazit, der neue Anzug musste her! Der Handel wurde getätigt. Alex neu ein- gekleidet und auch mit neuen Schuhen und Hut ausgerüstet. So kam es, dass am Ostersonntag 1737 der Hauptort um eine überaus elegante Erscheinung bereichert wurde. Er hatte seine Bleibe noch nicht ganz verlassen, vernahm er schon die Oooohs und Aaaahs von gegenüber. Beim Vorbeigehen hörte er, wie sie sich zuflüsterten, nun doch Erfolg gehabt zu haben.

Das Leben wurde freundlicher, die Blicke der Umgebung einladend bis verfüh- rerisch. Schändlicherweise vergass der Tuchhändler seine Versprechungen und kam regelmässig dreimal die Woche, um sein Guthaben einzuziehen.

Da brachte der Bote das Schul- und Kostgeld von seinem Vater für das zweite Halbjahr, just zu dem Zeitpunkt, als der Händler wieder mal zu Besuch war. Alex riss die Geduld und warf dem Mann sein Geld vor die Füsse. Dieser musste sich etliche Male bücken, bevor er das Geld hatte und endgültig das Haus verliess.

Die Ferien kamen und Alex reiste in seinen alten Klamotten nach Hause. Er hatte den festen Vorsatz, seinem Vater dies zu beichten. Weder die Schule noch der Domherr machten sich Gedanken über das ausstehende Geld. Der Heimweg, ein langer Fussmarsch, wurde ihm zur Qual. Er kannte seinen Vater zu gut, um nicht zu wissen, dass er sehr jähzornig werden konnte. Er stellte sich vor, dies wäre nun sein erster Gerichtsfall, denn für die Juristerei hatte er sich schon definitiv entschieden. Er überlegte sich, welche Argumente er wohl vorbringen könnte, um seinen Vater zu besänftigen und auch das Schlusswort, das den Fall endgültig zu seine Gunsten entscheiden sollte. Er traf seinen Vater in übelster Laune an. Das Jagdglück schien ihm nicht hold gewesen zu sein. So verschob er seine Beichte. Das gemeinsame Nachtessen, ein paar geschossene Wachteln, konnten das eisige Klima nicht auftauen. Alex legte sich zu Bett mit dem festen Vorsatz, die Sache am nächsten Tag zu bereinigen. Aber auch am nächsten und übernächsten Tag fand er nicht den Mut, seine Sünde zu beichten. Seine Mutter wusste bereits alles, aber auch sie traute sich nicht, ihren Mann auf- zuklären. Maria war von der Ungeheuerlichkeit dieser Sünde überzeugt und wagte es schlicht und einfach nicht, Alex dem Vater gegenüber in Schutz zu nehmen. So vergingen die Ferien und Alex schwieg beharrlich. Er hatte sich eine neue Taktik ausgedacht, nämlich den Domherrn einzuweihen und es ihm zu überlassen, die Sache mit seinem Vater ins Reine zu bringen. Nach dieser Überlegung fiel ihm ein grosser Stein vom Herzen. Er verabschiedete sich in der gewohnten Art von seinen Eltern und nahm den beschwerlichen Weg nach Sitten unter die Füsse.

Der Weg befand sich nicht in der Talsohle, diese wird von der Rhone ganz und gar beansprucht. Dieser Weg klebte am Berg und machte jede Falte des Gelän- des mit. Ob Siders traf Alex auf einen Reitersmann mit militärischem Gehabe. Dieser Mann sprach Deutsch mit einem lustigen Akzent. Er stellte sich vor als General Graf Ödön von Batthyány aus Budapest, wohnhaft in Wien und pri- vat unterwegs. Eine feuerrote Narbe spaltete sein Gesicht von seinem rechten Auge bis zur Oberlippe. Bei entspanntem Gesicht tat dies seiner Männlichkeit keinen Abbruch. Sobald er aber lachte, und das tat er oft, wurde aus ihm ein Häufchen Elend, denn man hatte sofort den Eindruck, dass er weinen würde. Jeder hat so sein Kreuz zu tragen.

Sie kamen ins Gespräch. Die Neugierde des Haudegens war unerschöpflich. Über alles und über jedes wollte er Auskunft bekommen. Alex blieb keine Ant- wort schuldig. Er wusste über alles Bescheid, konnte über alles mitreden. Er machte auf den Grafen einen sehr guten Eindruck.

In Sitten angekommen, unter dem Leukertor, schlug der Graf vor, Alex solle gleich bei ihm bleiben und ihn als sein Sekretär auf der Heimreise nach Wien begleiten. Sein bisheriger Begleiter hätte ihn bereits in Rom verlassen. «Also wenn Sie einverstanden sind und natürlich auch Ihre Eltern, nehme ich Sie gleich mit nach Wien!»

Für Alex kam das alles ein bisschen zu plötzlich, er machte nur eine hilflose Geste. Er verabschiedete sich vor dem «Hôtel du Lion d’Or» von seinem Weg- gefährten und ging zu seinem Verwandten.

Etwa zu dieser Zeit bekam sein Vater in Varen einen Brief von eben diesem Verwandten, dem Domherrn.

Lieber Vetter,

in einer Woche gehen die Ferien zu Ende und ich erwarte mit Freude die Rück- kehr Deines Sohnes unter meinem Dach. Der Junge macht sich und Du darfst stolz sein, einen so begabten Sprössling zu haben. Er ist einer der Besten in seiner Klasse und so Gott der Allmächtige will, wird er Dir, der Familie und uns allen viel Ehre machen.

Ich habe mit Freude zur Kenntnis genommen, wie Du ihn letzte Ostern neu ein- gekleidet hast. Es schien mir richtig zu sein, ihm mit dieser Geste zu zeigen, dass man mit ihm zufrieden ist. Ich werde mich also mit der gleichen Freude Deinem Sohne widmen wie bis anhin und grüsse Dich freundlich und verbleibe Dein etc. etc.

P.S. Vergiss nicht, ihm das Schul- und Kostgeld mitzugeben, die Schule und meine Jungfrau liegen mir dauernd damit in den Ohren!

Dieser Nachsatz war wohl der eigentliche Grund dieses Briefes. Der Schuss war draussen, die Lawine im Rollen.

Alex sass beim Domherr zu Tisch. Sie plauderten über dieses und jenes, ohne das heikle Thema zu berühren, das dem Domherrn so am Herzen lag. Dieser wollte aber unbedingt auf die Sache zu sprechen kommen und fragte plötz- lich: «Alex, hat dir dein Vater nichts für uns mitgegeben?» «Nein, ich weiss schon, was Sie erwarten und ich bitte Sie, sich bis morgen zu gedulden. Was ich Ihnen zu sagen habe, wird zeigen, dass mein Vater in dieser Sache keine Schuld trifft.« «Nun, ich hatte meinen Brief sehr sorgfältig gestaltet und habe dei- nen Fortschritt in der Schule gepriesen. Trotzdem habe ich mir erlaubt, ihn auf unsere Bedürfnisse aufmerksam zu machen, die nun zu Martini, wie du weisst, grösser sind als zu einem anderen Zeitpunkt im Jahr. Du wirst das doch begrei- fen, oder? Es scheint mir nun wahrhaftig, dass mein Brief bei deiner Abreise noch nicht in Varen eingetroffen ist.» Alex war von dieser Eröffnung ganz er- schlagen. Er brachte keinen Ton über seine Lippen.

Der Domherr, gewohnt mit den Hühnern schlafen zu gehen, verschwand in sein Gemach, mit dem Gedanken, dass sich am nächsten Tag alles aufklären würde.

Alex verliess auf der Stelle das Haus und begab sich ins Hotel, wo er den Grafen beim Nachtmahl vorfand. Alex verlor keine Zeit und fragte ihn, ob das Angebot immer noch gelten würde. Wenn ja, würde er annehmen und Sitten gleich morgen mit ihm verlassen. Er habe seinen Eltern einen erklärenden Brief geschrieben. Sein Vater würde ganz sicher einverstanden sein, dass er, Alex, seine Studien in Wien fortsetzen würde. Der ungarische Edelmann liess sich ohne Mühe überzeugen und sie verabredeten für den nächsten Tag, sich ausserhalb von Sitten auf der Strasse nach Martinach zu treffen. Wohlweislich, um alle Nachforschungen nach Alex zu erschweren.

Zurück in seinem Zimmer, schrieb er seinem Vater einen Brief, erklärte ihm alles und bat ihn um Verzeihung für seine Torheit und auch für sein Verschwinden. Er werde sich bald wieder zu Hause melden, sobald er es zu etwas gebracht hätte. Wien und den Grafen erwähnte er nicht. Seinem Gastgeber schrieb er ebenfalls einen Brief. Beide übergab er seinem Vetter Christian, der natürlich von Anfang an alles mitbekommen hatte, sich aber absichtlich aus allem raus- gehalten hatte. Sein Wunsch, Priester zu werden, stand schon fest. Mit solchen weltlichen Dingen wollte und konnte er nichts zu tun haben.

Mit schwerem Herzen verliess Alex seine Bleibe. Er wartete auf der erwähnten Strasse auf seinen neuen Dienstherrn, dessen Pferd er bald zu sehen bekam.

«Er stürmt ins Leben wild hinaus – durchmisst die Welt am Wanderstabe», steht auch irgendwo bei Schiller.

Das ungleiche Paar, der eine hoch zu Ross, der andere auf Schusters Rappen, zogen das Rhonetal hinunter Richtung Genfersee. Für Alex tat sich eine wunderbare Welt auf. Bis heute waren Leukerbad, Brig und Sitten die Grenzen, über die er noch nie hinausgekommen war. Wie hätte er sich vorstellen können, jemals einen See zu sehen, dessen Ende nicht auszumachen war! Immer wieder schweifte sein Blick zurück, es war nicht klar, ob er nach Verfolgern aus- schaute oder ob er sich von seiner Heimat verabschiedete, die langsam hinter ihm im Dunst verschwand. Es war bald Winter und das Land dampfte, obwohl der Stockalperkanal die Gegend seit einigen Jahren entwässerte. Villeneuve – Montreux – Vevey. Die Dörfer reihten sich wie Perlen, die Weinberge verban- den sie zu einer lieblichen Kette. Die Ernte war vorbei und die verbleibenden Trauben gehörten dem, der sie fand.

Der Herr General war mit seinem Sekretär sehr zufrieden. Er bedauerte keinen Moment, den Vorgänger in Rom verloren zu haben. Immerhin befand man sich schon tief in Französisch sprechendem Gebiet. Alex hatte die Gelegenheit, seine Kenntnisse, die er sich widerwillig angeeignet hatte, anzuwenden. Dies kam nun beiden sehr gelegen. Der ungarische Edelmann war auf den Schlachtfeldern besser bewandert als bei Hofe in Wien. Dort wurde auch Französisch gesprochen, wenn auch nicht ausschliesslich. Sie verbrachten die erste Nacht in Vevey.

Seine Arbeit als Sekretär des Grafen hatte Alex sich anstrengender vorgestellt. Es gab keine Briefe zu schreiben, keine Berichte abzufassen, nichts, einfach nichts. Der Graf wollte nur reden und Gesellschaft haben.

Bei ihrer Abreise begegnete ihnen eine Schar Krieger, die mit diversen Musik- instrumenten einen Spektakel machten, als ob es Fasnacht wäre. Wahrschein- lich hatten sie einen Raubzug in Feindesland hinter sich und kamen fröhlich und guter Dinge wieder nach Hause.

Die Reisenden näherten sich langsam der Grenze. Man befand sich im Aargau. Der Graf wollte unbedingt die Habsburg besuchen, das Stammesschloss des Kaisers in Wien.

Alex wusste viel über griechische und römische Geschichte, über Perser und Meder, aber über die aktuelle Zeitgeschichte rein gar nichts. Er erfuhr nun, dass der Kaiser der letzte männliche Habsburger sei.

Sie zogen weiter.

Alex vernahm mehr über die Scharte, die den Grafen verunstaltete. Alles sei bei der Schlacht von Guastalla passiert. Ein Franzose, ein Husarenoberst, sei dafür verantwortlich. Der Graf hatte es ihm aber auch besorgt. Solche Streiche würde er keine mehr machen können. Leider sei er nun für den Rest seines Lebens gezeichnet. Dagegen liesse sich nichts machen. Es gäbe ehrende und entehren- de Verletzungen, sichtbare und unsichtbare Wunden. Er habe auch noch eine Türkenkugel irgendwo in seinem Körper. Sie mache sich aber nur bei Gewitter bemerkbar.

Sie vertrieben sich die Zeit, indem sie sich in langen Gesprächen besser kennen lernen. Die zwei waren sehr ungleiche Partner. Der eine unerfahren in jeder Beziehung, der andere von der Schule des Lebens geprägt und als Soldat und hoher Offizier im Umgang mit jüngeren Menschen erfahren und mit feinem Gespür ausgestattet.

Kurz vor Wien kam es zu einem wichtigen Gespräch. Der General ergriff das Wort: «Hören Sie, junger Mann, ich habe über die Vorschläge, die ich Ihnen gemacht habe, gründlich nachgedacht. Ich hatte Sie Ihnen gemacht, weil sie mir in den Kram passten. Für mich waren Sie ein Unbekannter, dessen Dienste ich in Anspruch nehmen konnte. Sie waren mit 18 Jahren zu jung und nicht in der Lage, meine absurden Vorschläge abzulehnen. Wir haben uns beide geirrt. Sie, weil Sie zu jung sind. Ich, weil ich zu alt und zu bequem geworden bin.»

«Haben Herr Graf etwa die Möglichkeit gefunden, meine Situation zu ver- bessern?» «Ich will vor allem, dass Sie Vorteile aus meiner Unterstützung be- kommen. Um dies zu erreichen, muss ich meine Unterstützung auf das Not- wendigste beschränken!» «Aber, Herr Graf, ich erlaube mir, Sie vom Gegenteil zu überzeugen.» «Papperlapapp, lassen Sie das, es wird Ihnen nicht gelingen. Ein Jüngling, der Tag und Nacht in meinem Haus lebt und arbeitet, wird nie ein selbständiger Mensch werden. Darum entlasse ich Sie aus meinen Diensten. Sie werden kein angenehmes Leben als mein Sekretär führen können! Ich bestehe darauf, dass Sie selbständig Ihr Jura-Studium fortsetzen und in angemessener Zeit zu Ende bringen. Ich werde Sie nicht über Nacht Ihrem Schicksal über- lassen. Wir werden uns langsam trennen.» Dieser Vorschlag schien Alex nicht allzu sehr zu beunruhigen. Der General fuhr fort: «Ich behandle Sie, wie man einen militärischen Befehlshaber behandelt. Man gibt ihm genügend Zeit, die Landkarte eines Landstrichs zu studieren, in dem er operieren soll.» «Sie wis- sen anscheinend besser, was gut für mich ist, als ich selbst.» «Das versteht sich von selbst. Man muss den Schwierigkeiten des Lebens ins Auge blicken, Ent- täuschungen erleben und versuchen, sie zu überwinden. Kurz, man muss den Kampf des Lebens selber führen. Das Brot in der Fremde muss ab und zu mit Tränen aufgeweicht werden. Man muss erlebt haben, morgens aufzuwachen, ohne zu wissen, wo man abends schlafen wird. Nur so kann ein Charakter ge- formt werden, eine Persönlichkeit reifen, zu der Sie sich hoffentlich entwickeln werden.» «Ich glaube, dass ich diesem Gedanken folgen kann.» «Es ist leicht, im seichten Wasser zu schwimmen. Der Erfolg ohne vorgängigen Kampf bringt einen dazu, sich zu überschätzen. Schon die Bibel sagt: Breite und gerade Wege führen nicht ins Paradies. Die Welt respektiert nur Kämpfer, die sich nicht un- terkriegen lassen.» «Ich danke Ihnen, Herr General, dass Sie so offen zu mir sind. Dass Sie der Meinung sind, aus mir könne etwas werden. An mir soll es nicht liegen. Ich habe mir sowieso geschworen, entweder Erfolg zu haben oder das Wallis nicht mehr zu sehen. Ich werde meinem Vater nur noch mit hand- festen Sachen kommen können. Ich habe Ihnen meine Sünden ja gebeichtet. Sie wissen Bescheid. Sie haben mich benützt. Ich habe Sie benützt. Wir sind quitt.»

«Bravo, genau das wollte ich hören. Und nun wollen wir sehen, dass wir nach Hause kommen. Wir sind nämlich angekommen. Wir sind in Wien.»

Stadtwappen von Wien

Wir befinden uns im Jahre 1745. Alex ist 26 Jahre alt. Er hat sein Studium be- endet. Seine Doktorarbeit wurde angenommen. Er ist gerade dabei, sich mit einer reichen Witwe, Frau Wagner, zu verheiraten. Alex beginnt sich in Wien zu installieren.

General Graf von Batthyány spaziert im Prater und lässt sich seine Narbe von der Sonne bescheinen. Da begegnet ihm Prinz Auersperg, Herzog von Müns- terberg und Frankenstein, der ihn herzlich begrüsst.

«General, Sie begegnen dem unglücklichsten Edelmann des Reichs!»

«Und was könnte wohl der Grund sein, um einen reichen Fürsten unglücklich zu machen?»

«Ich bin bei Ihrer allergnädigsten Majestät in Ungnade gefallen!»

«Sie überraschen mich, ich hätte es nie für möglich gehalten, dass Sie, Hoheit, irgendetwas tun oder sagen könnten, das unsere Kaiserin bewegen könnte, Ihnen ihr Wohlwollen zu versagen.»

«Diese Meinung ehrt Sie, General, aber es ist so. Wenn wir stattdessen einen Kaiser hätten, wäre mir diese Schmach erspart geblieben. Diese Frauen, diese Frauen, sie bringen mich noch zur Verzweiflung.»

«Was wirft sie Ihnen vor?»

«Kaiserin Maria-Theresia ist entschlossen eine Fülle von Einrichtungen zu reorganisieren, Privilegien unter die Lupe zu nehmen und mir unter anderem Vorrechte zu streichen, die bis anhin absolut legal waren.»

«Die Kaiserin ist zwar noch keine dreissig Jahre alt, stellt sich aber, wie mir scheint, recht geschickt an beim Regieren ihrer Länder. Wenn Sie Ihnen also etwas vorzuwerfen hat, wird sie sicher ihre Gründe dafür haben. Sollte etwa die Tatsache, dass Sie als Heereslieferant zu einem der reichsten Fürsten des Reichs geworden sind, an höchster Stelle Unwillen erregt haben?»

«General, Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen. Sie vergessen aber zu erwähnen, dass diese Vorrechte bereits seit zwei Generationen in meiner Fami- lie sind. Sie sind vom Urgrossvater der Kaiserin meinen Ahnen zugestanden worden wegen geleisteter guter Dienste. Alle Handschreiben befinden sich bei mir zu Hause.»

«Daran ist nicht zu zweifeln, da Sie dieses Recht ausüben, müssen Sie es auch besitzen. Man wird sich überlegt haben, dass es höchste Zeit ist, Ihrer Familie dieses Privileg wieder zu nehmen.»

«Was die am Hofe sich überlegen, weiss ich nicht. Ich weiss nur, dass man dabei ist, mir den Prozess zu machen. Aber ich werde nicht still dasitzen und darauf warten, dass man mir das Fell abzieht. Ich werde mich wehren und su- che eigentlich nur einen Anwalt, der meine Sache gut vertreten kann. Leider scheinen alle guten Anwälte in Wien bereits auf der Gegenseite zu stehen. Die andern scheinen keine Lust zu haben, sich für meine Sache zu erwärmen. Sie kümmern sich lieber um Witwen und Waisen. Dabei ist mein Privileg auf dem besten Weg, ein Waisenkind zu werden.»

«Ich kann mir gut vorstellen, dass kein Anwalt Lust hat, gegen die Krone anzutreten und auch kaum eine Freude daran hätte, Ihnen dieses Privileg zu erhalten.»

«Ja, ja, unsere holde Kaiserin hat alle mit ihrem Charme und ihrer Liebens- würdigkeit verhext. Wenn ich also nicht einen geeigneten Anwalt finde, bin ich am Ende!»

«Herzog, ich glaube, dass ich den Mann kenne, der Ihnen in dieser Sache be- hilflich sein wird.»

«Und wo, zum Teufel, wollen Sie den guten Mann hernehmen?»

«Der Mann, den ich meine, hat sich gerade verheiratet und wohnt heute an einer besseren Adresse als noch vor einem Monat. Er ist ein Fremder aus ei- ner Randregion des Reichs. Genauer gesagt, es ist ein Walliser, der hier seine Rechtsstudien abgeschlossen hat. In Tat und Wahrheit bin ich gerade dabei,

den Alkoholdunst aus meinem Kopfe zu vertreiben, den ich mir anlässlich sei- ner Hochzeit eingehandelt habe.»

«Ist er Doktor der Rechte? Wie alt ist er?»

«Ja, er hat seinen Doktor gemacht und ist gerade mal sechsundzwanzig ge- worden.»

«Eigentlich müsste ich einen Anwalt haben mit einem meterlangen Bart, der bekannt ist und die Gegenseite erzittern lässt.»

«Und ich bin im Gegenteil der Meinung, dass Sie einen Mann benötigen, der nichts zu verlieren hat und im schlimmsten Fall verschwinden kann, ohne Auf- sehen zu erregen. Er reist dann einfach in seine Heimat zurück.»

«Das ist in der Tat eine Meinung, die sich hören lassen kann. Ich bin bereit, Ihrem Rat zu folgen. Wo finde ich den Mann?»

«Gehen Sie zuerst in die Universität und reden Sie mit dem zuständigen Rek- tor. Er kann Ihnen besser und gründlicher über den Mann Auskunft geben als ich.»

«Ich eile!»

«Ich habe nur eine Bedingung, Hoheit, dass Sie mich ganz aus dieser Sache herauslassen. Sagen Sie dem jungen Mann, Joseph Alex Julier, dass Sie ihn auf Grund einer Empfehlung aus der Fakultät mit Ihrem Fall beauftragen wollen. Ich habe meine Gründe dafür und bitte Sie um Ihr Wort.»

Prinz Auersperg verspricht, den Willen des Generals zu respektieren und eilt zur Universität. Dort hat er gleich Gelegenheit, mit dem Fakultätsvorsteher zu sprechen. Dieser hat Alex in sein Herz geschlossen, weil er selten einen so fleissigen Studenten gehabt hat. Sogar jetzt noch sieht er Alex ab und zu im Hörsaal. Für einen Doktor der Rechte ist das eher die Ausnahme. Ihm ist dieser junge, frische Student von Anfang an aufgefallen, der sich nie erlaubt hat, wäh- rend des Unterrichts zu gähnen oder gar zu schlafen. Bei seinen Kommilitonen ist das durchaus üblich. Alex hat einfach kein Geld, um nächtliche Touren in Grinzing und Nussdorf zu finanzieren. Zwischen dem Rektor und Alex hat sich im Laufe der Jahre ein Vater-Sohn-Verhältnis entwickelt. Bei der Ablieferung der Doktorarbeit ist nicht auszumachen, welcher der beiden stolzer gewesen ist. Der Rektor ist häufiger Gast bei Gericht, wenn Alex einen Fall zu behan- deln hat. Man sieht ihn den Kopf schütteln, wenn er mit den Ausführungen unseres Helden nicht einverstanden ist. Das ist nicht oft der Fall. Meistens kann er dem jungen Anwalt zu seinem Erfolg gratulieren.

Als er hört, wozu Alex eingespannt werden soll, ist er sofort Feuer und Flamme.

Er redet sich die Lippen wund, um dem hohen Gast die Vorzüge von Alex zu beschreiben und in allen Farben zu schildern. Seine Abschiedsworte sind auf jeden Fall unmissverständlich: «Gehen Sie zu ihm und laden Sie ihm Ihre Sor- gen auf seine Schultern. Sie werden es nicht bereuen, Hoheit!»

Er erzählt dem Herzog mehr aus der Heimat von Alex. Von seiner Familie, von der Unversöhnlichkeit des Vaters, von der Verbindung zum General. Er erzählt von der strengen Studienzeit seines Schülers, den Entbehrungen. Kurz, er informiert seinen Gast über seinen neuen Anwalt und schafft ein Umfeld, das sowohl dem Herzog als auch seinem Protegé zugutekommen sollte.

Auersperg begibt sich nach Hause, nimmt alle notwendigen Unterlagen an sich und geht zu Alex, der ihn höflich in seiner bescheidenen Kanzlei empfängt. Nachdem er sich vorgestellt und ihm von seinem letzten Gesprächspartner er- zählt hat, bringt er das Thema endlich auf seinen sich anbahnenden Prozess. Alex winkt bescheiden ab und meint, dass er für solch einen Fall viel zu un- erfahren sei. Er habe noch keine Gelegenheit gehabt, sich in einem kompli- zierten Geschäft gegen die Krone zu bewähren. Prinz Auersperg, Herzog von Münsterberg und Frankenstein, Heereslieferant von Habsburgs Gnaden, hat keine grosse Mühe, Alex, selbst wenn er seine Meinung ändern muss, von der Richtigkeit seiner Entscheidung zu überzeugen.

Der Herzog: «Der Hof hat die besten Anwälte Wiens für diese Sache einge- spannt.»

Alex: «Dann stehen die aber auf schwachen Füssen.»

Der Herzog: «Wieso kommen Sie zu dieser Schlussfolgerung?»

Alex: «Ganz einfach, wenn der Hof seiner Sache so sicher wäre, hätte er sich kaum in solche Unkosten gestürzt. Bitte zeigen Sie mir Ihre Unterlagen.»

Nachdem er die verschiedenen Belege eine Weile studiert hat, wird sein Ge- sicht immer freundlicher, und er sagt: «Ihre Rechte scheinen mir unbestreitbar zu sein.»

Der Herzog: «Sie scheinen zu scherzen, immerhin haben wir es mit einem starken Gegner zu tun.»

Alex: «Genau aus diesem Grunde ist mir nicht zum Scherzen zumute. Ich wür- de so etwas nicht sagen, wenn Ihre Unterlagen nicht eindeutig wären.»

Der Herzog: «Sie scheinen also bereits gewonnen zu haben? Ich meine, wir scheinen bereits gewonnen zu haben.»

Alex: «Keineswegs, Sie müssen nicht vergessen, dass wir nicht nur die Krone gegen uns haben, sondern auch die öffentliche Meinung. Und nicht nur das.

Die Richter werden wohl auch eher auf der Gegenseite zu finden sein. Privilegien gegen höhere Interessen!»

Der Herzog: «Damit können Sie Recht haben. Von heute an ist das auch Ihr Kampf. Sie werden dafür sorgen, dass die öffentliche Meinung sich ändert.» Er verabschiedet sich von Alex, der sofort nach dem Herzog das Haus verlässt, um dem Grafen, seinem Freund, diese Neuigkeit mitzuteilen. Dieser spielt mit und tut so, als ob das alles neu für ihn wäre. Der General meint, dass er immer schon gesagt habe, dass der Erfolg für einen starken Mann immer nur eine Frage der Zeit sei.

Ein Prozess dieser Grössenordnung musste Aufsehen erregen. Auf der einen Seite der Hof und die kaiserliche Macht. Auf der anderen Seite ein hochange- sehenes herzogliches Haus. Ferner ging es um enorme Geldbeträge! Die Anzahl der juristischen Grössen auf der Klägerseite und die einsame Stimme auf Seiten der Verteidigung.

Wien redete vier Tage lang von dieser Sache. Anschliessend beschäftigte sich die Provinz noch weitere acht Tage damit. Die Familie des Herzoges und auch seine engsten Freunde kritisierten um die Wette die getroffene Anwalt-Wahl des Prinzen. Doch dieser war dickköpfig und anmassend, so wie es sich einem reichen Mann geziemt. Je mehr man ihn bedrängte, umso sturer blieb er bei seiner Wahl.

Die Klageschrift, die im kaiserlichen Gerichtssaal verlesen wurde und auch in der Presse erschien, war lang und einschläfernd. Gespickt mit langweiligen Floskeln und Wiederholungen. Mit pseudowissenschaftlichen Überlegungen und Redewendungen. Das alte Arsenal der germanischen Gesetzgebung wurde malträtiert, nicht weniger das römische und das kanonische Recht. Die Über- treibungen waren unüberhörbar. Sie kompromittierten mehr die Vortragenden als die angesprochene Partei.

Joseph Alex entschloss sich, seine Gegner ins Lächerliche zu ziehen, und hatte mit dieser Methode Erfolg. Er umging mit grossem Feingefühl alle Klippen und beharr- te auf dem geschriebenen Wort, der Echtheit der vorgelegten Dokumente. Er war sich seines wahren Gegners durchaus bewusst. Die Kaiserin hatte die Sache selbst in Gang gebracht. Alex verstand es jedoch meisterhaft, diese hohe und äusserst be- liebte Persönlichkeit ganz und gar aus dem Geschehen auszuklammern. Nicht Ihre Majestät war es, die versuchte, ein Mitglied des Hochadels zu demütigen, sondern einige ehrgeizige Beamte, die mit Neid auf das herzogliche Haus blickten. Diese versuchten mit allen Mitteln, die Privilegien rückgängig zu machen. Die Privilegien waren bereits von Kaiser Ferdinand III. der Familie Auersperg zugestanden und hatten immer noch Bestand! Sie waren Bestandteil des Lehens an die Auersperger mit dem Herzogtum Münsterberg und Frankenstein in Schlesien.

Alex hatte Erfolg mit seiner Methode. Die öffentliche Meinung wechselte auf die Seite des Prinzen. Eine Niederlage der Kläger war zumindest nicht mehr unmöglich.

Die Schlussverhandlung fand in Passau statt. Das Richterkollegium bestand aus vier kirchlichen und drei weltlichen Persönlichkeiten. Alex liess sich von der hohen gesellschaftlichen Stellung dieser Leute nicht beeindrucken. Noch weniger von der Phalanx der gegnerischen Advokate. Seine Argumentation war sachlich und nüchtern. Das Recht des Kaisers, Privilegien zu vergeben, durfte nicht angezweifelt und schon gar nicht angefochten werden. Seine Rhetorik war einfach, immer genau auf das Ziel gerichtet. Alle seine Freunde und Gön- ner, die den langen Weg nach Passau nicht gescheut hatten, genossen den Auf- tritt ihres Schützlings ohne Vorbehalt. Es kam, wie es kommen musste. Das Urteil fiel zu Gunsten des Herzogs aus. Die Kosten wurden der Krone auf- gebürdet. Das Urteil war abschliessend und nicht anfechtbar, es war folglich endgültig und konnte nicht rückgängig gemacht werden!

Der Sieg von Joseph Alex war ein totaler – ohne Wenn und Aber. Kaum hatte sich der Saal beruhigt, beugte sich Alex nach vorne zu seinem Klienten und flüsterte in sein Ohr: «Wollen Hoheit nun ein wahres Meisterstück vollbrin- gen?» «Natürlich, wie stellen Sie sich diesen Streich vor?»

«Stehen Sie auf und machen Sie dem Gericht klar, dass es Ihnen nur um das Recht ging und nicht um die Privilegien. Sie würden nun öffentlich und un- widerruflich darauf zu Gunsten der Krone verzichten.»

Dem Herzog blieb eine Weile vor Überraschung der Mund offen. Schnell be- griff er dann die unglaubliche Genialität dieser Aktion. Er verlangte das Wort. Stand auf und machte die vorgeschlagene Erklärung. Dies mit der Gestik und der dramatischen Ernsthaftigkeit eines staatlich geprüften Burgschauspielers. Der ganze Saal tobte vor Begeisterung. Der Herzog selbst war nun felsenfest überzeugt, diesem Stück das bestmögliche Ende bereitet zu haben.

Auf der Stelle schrieb er eine Anweisung an seine Bank in Wien. Er bezahlte seinem Anwalt die stolze Summe von hunderttausend Gulden.

Zu Hause erwartete Joseph Alex der Befehl Ihrer Majestät, sich zur Audienz

Schönbrunn

in der Hofburg einzufinden. Pünktlich wie ein Maurer stand er zur gegebenen Zeit im Vorzimmer und wartete geduldig, stundenlang. Dann endlich wurde er gerufen. Im Zimmer fand er Maria Theresia sitzend am Tisch. Ihr Mann, der Kaiser, stand daneben. Im dunklen Hintergrund waren einige Würdenträger und Hofbeamte kaum auszumachen.

Joseph Alex stand vor den Majestäten in gebückter Haltung und wartete dar- auf, angesprochen zu werden.

 

Endlich hörte er sie reden. Eine zarte einschmeichelnde Stimme. «Mit Ihrem Sieg im Prozess gegen Prinz Auersperg haben Sie Mut und Tatkraft gezeigt. Sie haben bewiesen, dass in unserm Land Recht auch Recht bleibt. Ich empfinde grösste Hochachtung für Ihre Leistung. Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie ver- hindern konnten, dass ich selbst das Recht beuge. Dank Ihnen wurde bewiesen, dass es im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation etwas Erhabeneres gibt als die Wünsche einer dummen Frau, nämlich das Recht.

Vorher will ich Ihnen die Ernennung zum Hofrat überreichen und hoffe, dass Sie uns noch lange erhalten bleiben.»

«Majestät, ich lebe fortan nur noch für die Krone!»

«Gut», sagte Maria Theresia, «aber wir sind noch nicht zu Ende. In diesem Raum gibt es einen Mann, den herzubringen uns viel Mühe verursacht hat, von den Kosten ganz zu schweigen.» Sie drehte sich um und rief: «Haupt- mann von Badenthal, kommen Sie her und schliessen Sie Ihren Ausreisser in die Arme. Lange genug haben Sie darauf warten müssen!»

Joseph Alex traute seinen Augen kaum, als er seinen alten Vater mit schweren Schritten auf sich zukommen sah, rechts und links begleitet von seinen Gön- nern und seinem Klienten. Diese Begleitung war nicht etwa überflüssig. Stefan wäre schon beinahe zweimal auf dem glatten Parkett hingefallen, wäre er nicht von seinen Begleitern gestützt worden. Vater und Sohn waren kaltblütig genug, sich zu beherrschen. Ein Blinder hätte erkennen können, dass beide nasse Au- gen hatten.

Es herrschte einige Minuten Ruhe, um den beiden das Wiedersehen zu erleich- tern. Der Vater schloss seinen Sohn noch einmal in die Arme. Sodann sprach er zu den Majestäten gewendet seinen Dank für die Ehrungen aus, die ihm über seinen Sohn zuteil würden. Er hätte sich das nie träumen lassen.

Die Kaiserin machte dieser Szene ein Ende, indem sie sagte: «Ihr Sohn wird Sie zurück in die Heimat begleiten. Auf der Rückreise nach Wien wird er Graf von Batthyány in Zürich treffen – und mit ihm zusammen die Verhandlungen mit der Eidgenossenschaft führen, um die Überführung der Gebeine derjenigen Habsburger nach Wien in die Hand nehmen, die noch in der Abtei Königsfel- den ruhen.»

Eine winzige Geste, ein kleines Nicken. Die Audienz war zu Ende.

So kam es, dass für Joseph Alex alle Voraussetzungen bestanden, in Wien sein Glück zu machen. Er verpasste sie nicht. Als Hofrat verliess er die Audienz. Seine Kanzlei wurde bekannt. Er vergrösserte diese durch gutes Personal. Die Mehrzahl der Aufträge, die hereinkamen, waren Fälle für die Krone. Am 18. Juli 1750 wurde er in den Adelstand gehoben. Ab jetzt firmierte er als Joseph Alexis, Freiherr Julier von Badenthal.

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Ferdinand, Freiherr von Werra – Kapitel 9

Der Chef der Familie, Kaspar Jodok v. Stockalper, genannt Kaspar Jost, war für die Bevölkerung von Brig kaum sichtbar. Er mied die Öffentlichkeit. Alle sei- ne repräsentativen Pflichten überliess er seinen männlichen Nachkommen, al- len voran seinem Lieblingssohn Caspar Eugen. Der Chef verbrachte seine Zeit meistens im Stockalperhaus an der Simplonstrasse gleich neben dem Palast mit den drei Türmen. Oft weilte er auch in einer seiner zahlreichen Latifundien in St-Léonard, Saint-Maurice oder in Gondo. Kaspar Jost ging allen festlichen An- lässen und Feierlichkeiten aus dem Weg. Sonntags konnte man seiner Anwesen- heit während des Hochamtes in der Pfarrkirche in Glis gewahr werden. Er kam kurz vor Beginn der Messe per Kutsche und verliess die Kirche und den Friedhof sofort nach dem «ite missa est». So viel zum unsichtbaren Doyen von Brig. Fa- milienfestivitäten, die er gab, konnte man an einer Hand abzählen. Im engsten Familienkreis feierte er am 13. Dezember seinen Namenstag, am Tage des Heili- gen Jost, Schutzpatron der Pilger und Bäcker. Alle 25 Jahre hingegen gab es eine Ausnahme. Anlässlich des 25., 50. und 75. Geburtstags von Jost wurde jeweils am 11. Mai sein Ehrentag gefeiert. Da gab es ein grosses Fest in der Stadt und im Schloss, zu dem alle Burger eingeladen waren. Am Abend traf sich noch eine Schar von handverlesenen Berühmtheiten aus Adel und Geistlichkeit im Ritter- saal. Am 11. Mai 1788 fiel der Geburtstag auf einen Sonntag. Der Haushofmeis- ter hatte die Vorbereitungen eingeleitet. Da es mit Gewissheit der letzte grosse Geburtstag von Kaspar Jost sein würde, sollte es ein ganz grosses Fest werden.

Alex hatte die Matura im Frühsommer 1787 bestanden. Einmal Primus, immer

Primus. Er wurde als bester Maturand der letzten Jahre gefeiert. Damit war eine wichtige Etappe in seinem Leben abgeschlossen. Trotz den vielen Gratulatio- nen, den lauten Abschiedsfeiern und den nicht enden wollenden Glückwün- schen blieb Alex der unauffällige, bescheidene Mann. Er bildete sich nichts auf seine Volljährigkeit ein. Er packte seine Koffer, seine Bücher und sein Diplom zusammen und verliess Brig in aller Stille. Auf einmal war er nicht mehr da. Den wenigsten fiel es auf.

Ferdinand, das pure Gegenteil, war, wo immer er auftrat, der Mittelpunkt. Er verstand es, den üblichen Konflikten des Studentenlebens aus dem Wege zu

 

gehen. Wenn es irgendwo etwas zu feiern gab – Ferdinand war dabei. Er war ein sehr durchschnittlicher Schüler. Trotzdem gelang es ihm, mit mässigen Leis- tungen mit seinen Lehrern einen guten Kontakt zu pflegen. Mit dem Präfekt hatte er gute Beziehungen, und sogar der Rektor war ihm freundlich gesinnt. Den Pedell hatte er sich gekauft. Seine Arbeit bei Stockalper trugen ihm einige Batzen ein. Diese verwendete er sorgsam und gezielt, um sein Ansehen in Brig zu festigen. Dem Pedell liess er unauffällig und nicht allzu oft ein Trinkgeld zufliessen. Sein Auftritt war immer korrekt und diskret. Ferdi wusste sich zu bewegen und war überall gerne gesehen. Man hatte ihn einfach gern. Bei seiner Arbeit im Arkadenhof hatte er Karriere gemacht. Längst war er nicht mehr mit den niedrigen Arbeiten der Stallknechte beschäftigt. Hildebrand hatte in- zwischen seine Talente im Umgang mit Zahlen, sein Beherrschen der Rechen- kunst entdeckt. Seit längerer Zeit schon sass Ferdi an einem Pult in der Kanz- lei. Dort überprüfte er die Abrechnungen, korrigierte begangene Rechenfehler und übertrug die richtigen Zahlen in das Rechnungsbuch. Beim Personal hatte er einen zwiespältigen Ruf. Er war ein guter Buchhalter. Das trug ihm von den älteren Kollegen Neid und Missgunst ein. Anderseits war er der gute Kumpel, der begangene Ungereimtheiten in den Warenrechnungen diskret und ohne Aufhebens verschwinden liess. Nie erteilte er Tadel. Nie stellte er Kollegen aus der Schreibstube bloss. So gesehen, war er ein guter Kamerad. Der Ruf, von den Stockalpern protegiert zu sein, haftete ihm an wie eine Klette, den brachte er nicht los. Ferdinand konnte damit leben. Es gefiel ihm, in die Nähe der führen- den Familien des Oberwallis zu gehören.

Eines Abends, es war schon dunkel, tauchte Rufus in der Kanzlei auf. Er winkte

Ferdinand zu und deutete ihm, in den Korridor zu kommen. Rufus führte ihn in die Details der Festivitäten zum 75. Geburtstag des Chefs ein. Nicht nur wusste er jetzt alles über den Ablauf des ganzen Festtages. Rufus eröffnete ihm, dass die Familie eine Delegation der Werras aus Leuk zum Feste laden möchte. Kaspar Eugen hatte den Obersten aus dem Majorshof mit Gemahlin vorge- schlagen. Nun brauche es noch ein paar Jüngere. Natürlich sei auch er zum Bankett im Rittersaal eingeladen. Sprachlos stand Ferdinand da. Das war ja unglaublich. Das war die Chance, in Brig Einfluss zu gewinnen und Beziehun- gen aufzubauen. Ferdinand bedankte sich für die hohe Ehre, die ihm gegeben wurde. Rufus nickte und verschwand.

Das Wallis wird vom Wettergott besonders verwöhnt. Das Tal des Rotten ist an sonnige Tage gewohnt. Heute schlug das schöne Wetter am Geburtstag von Kaspar Jost alle Rekorde. Der Sonnenaufgang war schon besonders. Es schien, als überreichte die Sonne, hinter dem Glishorn hervorschielend ihr eigenes Geburtstagsgeschenk ins Schloss.

Um elf Uhr läutete die Glocke der Jesuitenkirche. Ganz Brig war schon im Schlossgarten versammelt. Mitglieder und Personal der Stockalperei und viele Burger der wichtigen Familien der Stadt am Fusse des Simplons gaben sich ein Stelldichein. Die Geistlichkeit, angeführt vom Bischof, schritt zusammen mit dem Rektor und dem Stadtpfarrer die Treppe vom Arkadenhof herab. Weitere Priester und Messdiener begleiteten sie. Das Hochamt fand statt. Der Abt von Saint-Maurice hielt die Predigt. Kurz vor Mittag war es so weit: «ite missa est», was wohl eher mit «das Fest kann beginnen» übersetzt werden kann. Der Segen war erteilt. Die Festgesellschaft verteilte sich im Garten. Die Spiel- leute der Volksmusikkapelle sorgte gleich für Stimmung. Überall standen Ti- sche mit Wein, Apfelsaft und Wasser sowie Käse, Brot und Wurst bereit. Es ging zu wie an einem Jahrmarkt. Ein Karussell voller jauchzender Kinder drehte seine Runden. Für die Prüfung der Geschicklichkeit standen ein Schiessstand und je ein weiterer zum Büchsen- und zum Ringwerfen bereit. Sogar die alte Kegelbahn war wieder in Betrieb.

Die Familie Stockalper hielt hinter dem Springbrunnen Hof. Alle waren er- schienen und nahmen ihre Plätze ein. Der alte Herr nahm gnädigst die Huldi- gungen und Gratulationen in Empfang.

Alle kamen auf ihre Rechnung. Die Jungen tanzten zur lüpfigen Musik. Män- nergruppen standen, immer mit einem Glas Wein in der Hand, zusammen und diskutierten. Genauso hatten auch die Frauen Plaudergrüppchen gebildet. Eher dem Most und dem Wasser zugewandt, tauschten sie Klatsch aus und kritisier- ten die Garderoben anderer Burgerinnen. Die Imbissstände wurden um vier Uhr abgeräumt. Ab jetzt gab es nur noch Wasser. Um fünf spielte die Kapelle den letzten Ländler. Gegen sechs leerte sich der Festplatz allmählich. Die Herr- schaften begaben sich nach Hause, um sich für das Dinner umzuziehen.

Arkadenverbindung vom Schloss zum Stockalperhaus

Ab sieben Uhr füllte sich der Rittersaal. Alle hatten sich herausgeputzt. Die Da- men elegant mit modernen Roben und viel Schmuck. Die Herren ausnahmslos im Frack und Orden. Das Salonorchester intonierte dezente Tanzmusik. Acht- zig Geladene verteilten sich an zehn runde Tische. In der Mitte der Ehrentisch mit dem Jubilar und seiner Frau und dem Burgermeister mit seiner Gattin. Für den Bischof war die jüngste Tochter des Hauses als Ehrendame kommandiert. Es fiel ihr nicht leicht, ihre Rolle zu spielen. Eminenz hingegen fühlte sich ge- ehrt und genoss die Anwesenheit einer züchtigen Dame sichtlich. Auch Oberst Joseph Alex Werra und seine Frau Marie Katharina sassen am zentralen Famili- entisch. Ansprachen wurden gehalten, Toaste ausgebracht. Es wurde genussvoll getafelt und getanzt. Alle drehten sich abwechslungsweise im Kreise. Nur der Gastgeber und der Bischof verzichteten auf ihr Tanzrecht. Alle, die Schmidhal- ters, die Eschers, die Kalbermatten, die Perrigs und die Kaempfens, mit ihnen viele Bewohner der Stadt, genossen es, mit anderen Frauen in den Armen ver- steckte Zärtlichkeiten auszutauschen. Vor allem die Jungen liessen keinen Tanz aus. Nach dem Dessert – die Stimmung erreichte ihren Höhenpunkt – meldete der Tafelmajor das Ereignis des Abends: Damenwahl! Ferdinand konnte sich kaum umsehen, da stand schon Margaretha, die Ehrendame des Bischofs und jüngste Tochter des Jubilars, vor ihm. Augenblicklich nahm er die Aufforde- rung an. Schon flog ein junges Paar in gekonntem Schritt über das Parkett. Beide genossen es, einander in den Armen zu liegen, sich körperlich so nahe zu sein und im Takte der Musik ihre Kreise zu drehen. Es sollte nicht der letzte Tanz mit Margaretha sein. Inzwischen sass sie bei Ferdinand am Tisch und genoss die Anwesenheit des kessen Junkers aus Leuk. Fröhlich ging es weiter. Die Becher klangen, Lieder wurden angestimmt, vor allem aber wurde getanzt wie ein Lumpen an einem Stecken. Kurz vor Mitternacht war Margaretha plötzlich verschwunden, auf einmal unauffindbar.

Die Musik spielte den letzten Tanz. Lichterlöschen. Das Fest war aus. Ferdinand fand sich etwas benebelt in seiner Schlafkammer wieder. Vollkommen angekleidet warf er sich aufs Bett. «Ich glaube, ich bin verliebt!», murmelte er vor sich hin. Das ist eine Klassefrau, die wilde Margaretha. Ein solches Weib sollte man heiraten. Später vielleicht. Jetzt keine Weibergeschichten. Zuerst muss die Matura bestanden sein …

Das Leben ging wieder normal weiter, als ob es nie ein Fest gegeben hätte. Fer- dinand kam Margaretha nicht mehr zu Gesicht. Er bestand knapp die Matura. Egal wie gut, er hatte das wichtige Diplom in der Tasche!

Der Neubau des Kollegiums wurde eingeweiht. Dann hiess es, Abschied von Brig nehmen. Ein Stallknecht von Stockalper brachte ihn und sein Gepäck nach Salgesch.

Ein Lebensabschnitt war damit zu Ende gegangen

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Ferdinand, Freiherr von Werra – Kapitel 8

Die Sonne verwöhnte Brig und seine Burger. Auch an diesem Tag schien sie vom wolkenlosen Himmel herab. Der Schlossgarten lud die Flaneure zum Lustwandeln ein. Die Wassertropfen des Springbrunnens glitzerten im hellen Licht. Im Pomarium reiften die Quitten, Birnen und Äpfel. Die Aprikosen- bäume waren schon geerntet. Vereinzelt hingen noch ein paar ausgetrocknete Früchtchen verloren an den kahlen Ästen. Die waren bei der Lese wohl ver- gessen gegangen. Hinten im Werkhof schwammen Forellen und Schleien im Gartenteich. Es roch nach Sommer. Nach Oberwalliser Sommer.

Auf den Stufen der Steintreppe, die in den Arkadenhof führt, sassen die Brü- der, eifrig im Gespräch vertieft. Die vier Jahre, die Alex nun in der Stadt am Fusse des Simplons verbracht hatte, waren im Nu verflogen.

Brig mit  Saltinaschlucht

Der tägliche Trott war durch die gut organisierte Lateinschule streng vorge- geben. Alex genoss diese Atmosphäre und brillierte als Musterschüler. Er war jetzt 16 Jahre alt und besuchte die Dialektik. In zwei Jahre würde er Maturand sein. Im Vergleich zu ihm war der zwei Jahre jüngere Ferdinand ein sehr durch- schnittlicher Schüler. Sein Lieblingsfach war allgemeine Mathematik, dann folgten Algebra, Geometrie und Analysis. Auf Latein hätte er gerne verzich- tet. Meistens wurden seine Übersetzungen von Alex korrigiert oder gar neu geschrieben. Ferdi schmuggelte sich durchs Studium und versuchte im Kollegi zu überleben. Für ihn war die Freizeit wichtig. Diese war zwar kurz bemessen, zwei bis drei Stunden verteilt auf den Tag, aber immerhin freie Zeit, die er selbst gestalten konnte. So entwich er der mühsamen Tretmühle des Unter- richts. Freie Zeit hiess für Ferdinand, Zeit an der Luft, Zeit, die es im Freien zu verbringen galt.

Obschon beide Studenten waren und unter dem gleichen Dach schliefen, tra- fen sie sich selten zu zweit. Zwei Jahrgänge Unterschied in der Hierarchie der Studenten war eine grosse Trennung, eine Mauer nahezu. Da beiden nichts an- deres einfiel, setzten sie sich auf die Stufen der Treppe zu einem seit langem fälligen Gedankenaustausch.

«Wie geht es denn meinem kleinen Bruder?», nahm Alex das Gespräch auf.

«Ich bin froh die Grammatik hinter mir zu haben, seit ich in der Rhetorik bin. Ich habe sehr darunter gelitten von den älteren Semestern gepiessackt zu werden. Es ist lächerlich, dass Anciennität im Studentenleben eine solch do- minante Rolle spielt. Ich werde mich hüten, meine Stellung als Rhetoriker bei den Neuen auszunützen. In den ersten zwei Jahren am Kollegium ist man als Studi ein Niemand. Ein Sklave gar. Schuhe der Älteren putzen, Teller waschen, Betten machen, Reinschriften erstellen. Schreibtische abstauben. Es ist kein Leben.» «Doch, doch, es dient dem Leben als Vorbereitung auf die Zeit nach der Matur», meinte Alex, «einmal muss man am eigenen Leibe erfahren, was unser Personal Tag für Tag für uns tut und wie das sich anfühlt.» «Du hast gut reden. Du hast schon den Status eines Dialektikers. Bald bist du im Lyzeum. Bald bist du Maturand. Kommt dazu, dass du mit deinen Lateinkenntnissen die Abschlussprüfung mit Bravour bestehen wirst. Du bist heute schon der Primus und der Liebling aller Patres.» «Nur nicht eifersüchtig werden, Brüderchen. Ich bin dankbar, dass ich ein Talent für Sprachen habe. Da fasziniert es, mit der Krone aller Sprachen, dem Latein, locker umgehen zu können.» «Von wegen Krone! Das Latein ist so kompliziert, dass man es im Grunde nur schreiben kann. Stundenlang darüber brüten, bis du das konjugierte Verb gefunden hast. Puh, für Dialoge völlig ungeeignet. Ich will nicht jammern. Mir fehlt jegliche Motivation, diesem Studienteil auch nur das Geringste abgewinnen zu können. Ich bin dankbar, dass du mir hilfst, mir die Studienaufgaben durchsiehst und von Zeit zu Zeit mit mir Vokabeln büffelst. Du bist wirklich gut. Ich habe letz- ten Dienstag gesehen und gehört, wie du mit den Patres lateinisch gesprochen hast. Kompliment. Übrigens, ich habe erst jetzt herausgefunden, dass unsere Lehrer gar keine Jesuiten sind.» «Das wusste ich auch nicht, als ich zur Auf- nahmeprüfung antrat. Der Papst und die Angehörigen der Gesellschaft Jesu sind sich um 1770 in die Haare geraten. Worauf der Heilige Vater seine tüch- tigste Kampftruppe im Sommer 1773 sang- und klanglos auflöste. Die Patres hat er in die Pfarreiseelsorge entlassen. So kam auch der Pfarrer Wegmann nach Salgesch. Den Unterricht hier übernahmen die Piaristen.» «Was wohl ein ähn- licher Orden ist wie die Jesuiten. Latein büffeln jedenfalls beherrschen sie vor- züglich.» «Die Geschichte dieses Ordens wirst du, wenn du in die Dialektik angekommen sein wirst, bis ins kleinste Detail kennen lernen. Heute nur so viel: Die Piaristen, die Frommen, wie du als guter Lateinschüler sofort begrif- fen haben wirst, sind in einem Orden organisiert. Das Besondere ist, sie legen nicht ein dreifaches Gelübte ab. Nein, ein Vierfaches: Armut, Keuschheit, Ge- horsam und Engagement für die Erziehung der Jugend.» «Das tun die hier in Brig mit peinlich genauer Auslegung ihres Eids. Jetzt verstehe ich auch, warum Pfarrer Wegmann früher Jesuit war. Deshalb beherrscht er das Lateinisch aus dem Effeff.» «Es wird Zeit. Wir müssen zurück in den Stollen.»

Als die beiden das Gebäude betraten, empfing sie eine ungewohnte Nervosität.

Es summte wie in einem aufgestörten Bienenkorb. Als sie alle im Speisesaal sassen, stand der Präfekt auf, klingelte, um Ruhe zu erheischen und erläuterte die bevorstehenden Ereignisse. Den Neubau, die daraus folgenden Auslagerung der Unterkunft der Internatsangehörigen, die Änderungen im Tagesablauf. Das war Gesprächsstoff bis zum Lichterlöschen. Vorher trafen sich die Gebrüder Werra im Gang. «Tolle Sache. Wir werden Externe. Ich werde bei Kaka woh- nen», vermeldete Alex. «Und ich bei Stockalpers!», triumphierte Ferdi.

Im Kollegium kam Leben in die Bude. Die Vorbereitungen für den Umzug der Schüler sorgte für Bewegung und Betrieb. Ferdinand erhielt von Rufus eine Dachkammer im Personalflügel des Stockalperhauses zugewiesen. Alles war da, was er brauchte. Kasten, Bett, Tisch, Waschschüssel und ein Plumpsklo am Ende des Korridors. Der Unterricht wurde durch die Bauarbeiten kaum ge- stört. Alles ging seinen gewohnten Gang. Nur die Abendstunden waren we- sentlich anders. Nach dem Studium bis um vier Uhr nachmittags verliessen die jungen Männer die Lehrstätte. Sie verteilten sich in Brig und Glis. Einige wohnten sogar in Naters. Alex wohnte bei der Familie Kalbermatten an der Furkastrasse. Ferdi genoss die Freiheit zusammen mit dem Personal von Stock- alper. Kurz nach vier trat er seine Arbeit im Arkadenhof an. Das Abendessen gab es in der Personalmensa. Dann war er seines Dienstes entledigt. Ab und zu half er nach dem Nachtessen noch in der Kanzlei aus. Es ging um die Kontrolle der Rechnungen und der Bilanzen. Für Ferdinand kein Problem, eine Freizeit- beschäftigung eher. Seine mathematischen Fähigkeiten halfen ihm. Er wurde ein Künstler im Zusammenrechnen. Alles ohne Notizen. Alles nur im Kopf. Und das fehlerfrei.

Oft trafen sich die Studis nach dem Souper verbotenerweise bei einem der anderen Kollegen in der Stadt. Der Präfekt liess zwar regelmässig den Pedell patrouillieren. Dieser musste feststellen, dass Ruhe und Ordnung herrschte. Die Kontrollgänge des Pedell hatten wenig Wirkung. Nach einem sehr kur- zen Rundgang traf er Freunde der Fuhrhalterei im «La Poste» bei einer Partie Kartenspiel.

Der Neubau war ein Segen. Vor allem während der Bauzeit. Sie verhalf den Studenten zu grosser Freiheit und wurde reichlich genutzt.

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Ferdinand, Freiherr von Werra – Kapitel 7

1784

Alex war überwältigt. Der Sebastiansplatz in Brig glich einem Termitenhaufen. So viele beschäftigte Menschen an einem Ort hatte der junge Gymnasiast noch nie erlebt. An einem warmen Tag Ende des Sommers hatte Alex Salgesch in der Früh verlassen. Zu Fuss marschierte er nach Brig, um gegen Abend dort anzu- kommen. Zufällig war, als er in Leuk eine kleine Pause machte, Robert Allet mit seinem kleinen Karriol aufgetaucht. Er hatte in Brig zu tun und nahm den Studios mit. So kam Alex viel früher als geplant in der Kollegiumsstadt an.

Markttreiben

Er stand noch vor dem Hôtel «Couronne et Poste». Zwei Postillione berei- teten gerade eine Kutsche für eine Reise rottenabwärts vor. Gepäckstücke la- gen ungeordnet herum und versperrten den Passanten den Weg. Aufgeregte Fahrgäste standen um den Rummel herum, darauf wartend, die Diligence end- lich besteigen zu können. Viele gut gekleidete Mägde – in Brig mussten viele wohlhabende Burger wohnen – stritten sich mit den Krämern, um einen guten Kaufpreis zu erkämpfen. Hier würde es Ferdinand gefallen.

Zwei Kuriere zu Pferd bewegten sich in ruhigem Schritt durch die Menschenmenge dem Stadttor zu. Vor den Herbergen sassen Kaufleute vor einem Ballon Weissen und gestikulierten. Ihre Argumente wurden damit optisch hervor- gehoben. Auch die Beinen hatten ihren Part. Heftiges Aufstossen des Fusses sollte die Wirkung erhöhen. Alle sprachen zur gleichen Zeit miteinander und durcheinander. So wurde in Brig Politik gemacht. Alles fand im Freien, vor dem Gasthaus, statt.

Vor vier Jahren war Alex hier angekommen. Inzwischen gehörte er zu den be- standenen Studenten des Kollegiums. Ferdinand war nun auch schon zwei Jah- re in Brig. Während Alex der unbestrittene Primus war, schlug sich der kleine Bruder so recht und schlecht durch den zu lernenden Stoff. Alex bot ihm As- sistenz, damit er nicht aus der Schule gewiesen werden konnte, und half ihm tüchtig bei den Studienausgaben. Es war ein Glück, einen grösseren, begabten, fleissigen Bruder zu haben.

Auch heute traf er zwei Kommilitonen am Brunnen bei der Sebastianskapelle. Es gehörte sich, dass ein echter Student einen speziellen Rufnamen, einen Vul- gonamen, hatte. Sein bester Freund Kilian Kalbermatten wurde Kaka gerufen. Patrice Perrig hatte Peri als Vulgo. Alex wurde mit Lex und Ferdinand mit Ferdi angesprochen. Es gab noch einen Vierten im Bunde, Theobald Tscherrig. Den nannte man Tschix. Heute war er abwesend. Er hatte andere Verpflichtungen. Unter Peris Führung begaben sich die drei zur halb verfallenen Scheune hinter der Herberge «La Poste». Dort sassen sie oft, unsichtbar für die Öffentlich- keit, und rauchten. Wie alle Männer rauchen, rauchten auch sie. Zwar waren sie noch nicht erwachsen, aber immerhin männlichen Geschlechts. Der teure Tabak wurde nicht verraucht. Anstelle der Zigarren der Herren rauchten sie Nielen. Nielen kosteten nichts und wuchsen am Waldrand. Mit dem Sackmes- ser wurden Stängelchen von zwei Zoll Länge geschnitten, angezündet und ge- raucht. Besonders gut schmeckte der Rauch nicht. Nielen waren Zigarren für

Sebastianskapelle Brig

arme Studenten. Kaka wusste, dass sie mit dem botanischen Namen «climatis vitalba» und auf gut Deutsch «Waldrebe» hiessen. «Heute ist ein besonderer Tag», vermeldete Peri. «Heute gibt es etwas Besonderes.» Er hatte zu Hause im Rauchzimmer ein paar echte Zigarren stibitzt. Montheyer nannte er sie.

«Erwachsene Männer rauchen keine Nielen. Die rauchen richtigen Tabak, entweder als Zigarre oder in der Pfeife. Heute wollen auch wir als erwachse- ne Männer rauchen», dozierte er und schnitt mit seinem Taschenmesser eine Zigarre in zwei Hälften. Die verteilte er an Kaka und an Ferdi. Er zündete sich eine Ganze an. Vorsichtig zogen sie den Rauch in den Mund. Tatsächlich, das schmeckte weit besser als Nielenrauch. «Die Grossen inhalieren den Rauch», wusste Kaka. «Was heisst inhalieren?» «Den Rauch in die Lunge einatmen. Probiere es.» Das ging völlig daneben.

Ferdi befiel ein grober Hustenanfall. Ihm wurde schwindlig. Beinahe kam das Mittagessen hoch. Er warf den Stummel auf den Boden und stampfte die Glut aus. «Nichts für mich. Dann doch lieber Nielen.» Die zwei anderen pafften munter weiter, mussten sie doch zeigen, dass sie echte Männer waren. Was nicht erwähnt wurde war, dass weder Kaka noch Peri den Tabakrauch inhaliert hatten.

Das Prinzip der Lateinschule benutzte Alex, um Ferdinand zu erklären, wie das im Kollegium läuft. «Alles dreht sich um Latein. Während sechs Jahren wird von Montag bis Samstag eine Stunde Latein unterrichtet. Dazu kommt täglich mindestens eine Studienaufgabe. In der Regel eine Übersetzung aus dem Latein auf Deutsch. Der ganze Stoff ist in drei Blöcken à zwei Jahre gegliedert. Sie werden Grammatik, Rhetorik und Dialektik genannt.» Alex besuchte jetzt die Dialektik, Ferdinand die Rhetorik.

«Das zweitwichtigste Fach ist die Christenlehre. Da geht es um Altes und Neues Testament, Kirchengeschichte, Liturgie und Katechismus. Alle Studis sind selbstverständlich auch Messdiener. Naturkunde, Erdkunde und Mathematik fungieren als Nebenfächer. Im letzten Jahr vor der Matura besucht man noch das Lyceum. Man ist dann Maturand.»

Nach den üblen Erfahrungen des Tabakrauch-Inhalierens hatte Ferdinand seinen Freizeitaufenthalt in den Arkadenhof verlegt. Täglich kamen Säumer vom Simplon nach Brig. Das Kommen und Gehen der Maultiere gehörte zum Stadtbild. Die Warenumschlagzentrale war der Arkadenhof im Stockalperpa- last. Anfänglich hatte sich Alex auf eine der Steinbänke beim Eingang gesetzt und dem Treiben zugeschaut. Was auf den ersten Blick als undurchsichtiges Durcheinander daherkam, zeigte sich bei genauerem Hinschauen als eine gut funktionierende Organisation. Der Chef des Betriebes war Hildebrand von Stockalper, Sohn des Clanchefs Kaspar Jost. Er hatte alles im Griff. Er hatte den Überblick. Er dirigierte das Geschehen.

Ankommende Mulis wurden in die südliche Ecke des Hofes gewiesen. Die Ware, das konnte Wein, wertvolle Textilien oder Salz sein, wurde dort abge- laden und kontrolliert. Knechte führten die müden Tiere zur Tränke und zum Haferplatz. Der Ballenführer und Hildebrand einigten sich über den Zustand und den Wert der transportierten Waren und feilschten um die Transportkos- ten. Wenn man handelseinig war, unterschrieb Hildebrand die Empfangsbestä- tigung. Der Ballenführer holte damit in der Kanzlei im Schloss sein Geld ab. Zurück, nahm er seine gelabten Saumtiere in Empfang und zog mit der Tierschar nach Hause.

Mit der Zeit hatte sich Ferdinand mit den Angestellten angefreundet und half mit, wo er Hand anlegen konnte. Er war gewohnt, mit Pferden umzugehen. Warum nicht auch mit Maulesel? Von der Familie Stockalper war hier aus- ser Hildebrand kaum jemand anzutreffen. Das Gros der Arbeit blieb an den Ballenführern hängen. Zwei Knechte kümmerten sich um die Sauberkeit. Sie fegten den Boden, entfernten den Mist und sorgten für Wasser in der Tränke, für Stroh und Hafer.

Gegen sechs Uhr abends ebbte die Betriebsamkeit ab. Das meiste war erledigt. Oft tauchte dann Rufus auf. Als Haushofmeister und persönlicher Kammerdiener von Kaspar Jodok war er der Chef über das ganze Personal. Ohne sein Wissen lief nichts im Hause Stockalper. Er organisierte die Einkäufe für die Küche, die Arbeit der Stallburschen, jene der Kammerzofen und der Mägde, besorgte den Kurierdienst, beaufsichtigte die Arbeiten in der Kanzlei und verwaltete das Haushaltsgeld. Ferdinand hatte schnell begriffen, dass er der wichtigste Mann im Gesinde war. Mit ihm stand man besser auf gutem Fuss. Es war Rufus nicht entgangen, wie gut Ferdi die anfallende Arbeit in der Karawanserei erkannte und anzupacken pflegte. So kam es, dass Rufus ihn eines Tages nach getaner Arbeit einlud, mit in die Stadt zu kommen, um dort in der «Couron- ne» ein Bier mit ihm zu trinken.

Arkadenhof Warenumschlag

Für Ferdinand war das eine grosse Ehre. Vom Hofhausmeister des grössten Hauses der Stadt eingeladen zu werden, war schon aufregend. Doch was führte Rufus im Schilde? In der Wirtschaft herrschte, wie immer zu dieser Zeit, gröss- te Betriebsamkeit. Es gehörte sich, nach getaner Arbeit vor dem Nachhause- gehen noch ein Glas Weissen zu genehmigen. Für Rufus war sein Tisch beim Eckfenster reserviert. Männiglich hiess den Obersten im Gesinde Stockalpers willkommen. Dieser grüsste freundlich zurück und schüttelte hier und dort eine Hand. Zusammen mit Ferdinand machten sich die beiden Männer am Stammtisch bequem. Ferdinand galt als zurückhaltender Trinker. Ein Glas zur Mahlzeit war selbstverständlich. Ab und zu, wenn es die Gelegenheit bot, ein Bier. Betrunken hatte Ferdinand noch niemand je angetroffen. Rufus hatte die üblichen zwei Bier schon bestellt und setzte gleich zum Gespräch an. Er wollte Ferdi ins Bild setzen. «Worüber wohl?», dachte der Student. Rufus begann da- mit, die ganze Familie Stockalper vorzustellen. Eine ungewöhnliche Vertraut- heit einem jungen Studenten gegenüber. Wo wollte Rufus hinaus? «Ich habe dich längere Zeit beobachtet, wie du bei uns im Hof mithalfst, die Tiere zu ent- lasten. Du kannst zupacken und Hand anlegen. Du siehst die Arbeit. Du hast eine ganz besondere, angenehme Art, mit den Eseln umzugehen. Solche Leute brauche ich in meiner Equipe. Ich würde es schätzen, wenn du vermehrt bei uns als Werkstudent mitarbeiten würdest. Natürlich gegen Bezahlung.» «Sie überraschen mich, Rufus. Ich war zuhause immer schon für den Stall verant- wortlich. So kam es wie von selbst, dass ich im Arkadenhof immer wieder auf- tauchte und dort ein bisschen mithalf. Das Angebot von vorhin habe ich nicht erwartet. Wäre ich nicht im Kollegium, ich würde sofort zuschlagen. Nur, die Matura geht vor.» «Ich habe Nachrichten, die diesen Konflikt lösen könnten. Stockalper hat eine grosse Menge Geld für den Neubau des Kollegiums gestif- tet. Die Bauerei geht nächsten Monat los. Das bedeutet, die Studenten müssen ausserhalb des Internats bei Familien in der Stadt Unterkunft finden. Bei mir ist ein Personalzimmer frei. Du könntest dort hausen. Du hättest damit mehr freie Zeit für andere Arbeit und du wärst die Kontrolle durch den Präfekten los.» Rufus schmunzelte verschwörerisch bei der letzten Bemerkung. «Um Gottes Willen, Rufus, wie kommen Sie an alle diese Informationen?» «Ich will dir erklären, wie das alles hier läuft. Die Zofen der meisten Familien kennen sich und bilden so etwas wie eine verschworene Gesellschaft. Sie tauschen alle Gerüchte und Informationen, die ihnen zu Ohren kommen, gegenseitig aus. Der Umschlageplatz dieses Wissens ist der tägliche Markt. Hier treffen sich die Mädchen, wenn sie beim Einkaufen sind. Ganz ähnlich ist es mit den Kutschern und den Stallknechten. Sie halten sich auf dem Laufenden und bringen die neuesten Nachrichten von ihren Fahrten zurück. Ebenso die Kuriere, die Ballenführer, die Fuhrhalter, die Bauern und die Verkäuferinnen an den Marktständen. Sogar die Kapuziner mit ihrem Bierhandel sind Teil dieses Informationssystems. Die Herrschaften haben keine Ahnung von diesem inoffiziellen Wissensfluss. Und ich als Haushofmeister von Stockalper habe eine besondere Stellung in diesem Geschäft. Jedermann weiss, dass ich für die Organisation und für den Personalbestand des ganzen Haushalts die Verantwortung trage. Wirklich, ohne mich läuft nichts im Hause Stockalper. Darüber hinaus habe ich, bei aller Bescheidenheit, den Ruf, tolerant und verschwiegen zu sein. Ich sammle nur die Informationen. Für die Verbreitung sorgt das Personal. Allen voran die Frauen, die Köchinnen, die Mägde, die Zofen. Unser Volk ist klar ge- trennt. Die Herrschaft ist eine Klasse für sich. Sie betreibt Handel und Politik. Sie hat ihr eigenes Beziehungssystem. Wir, die wir Lohn nehmen, bilden ein zweites Biotop mit eigenen ungeschriebenen Verhaltungsregeln und Gesetzen. Darauf sind wir sehr stolz. Diese Innungen des einfachen Personals haben ihren eigenen Ehrenkodex. Wer die Regeln verletzt oder untreu wird, ist augenblicklich aus dem Kreis ausgeschlossen und findet keine Stelle mehr.»

Das war eine Lektion fürs Leben. Es entstand eine Denkpause, bevor Ferdinand sagte: «Lieber Rufus, ich nehme Ihr Angebot an. Es braucht keine Entlöhnung. Als Gegenleistung wäre ich froh, wenn ich ab und zu die Pferde bewegen könnte. Ich darf nicht aus der Übung kommen. Ein Ausritt pro Woche wäre schön.» «Ferdinand, du bist ein richtiger Geschäftemacher. Einverstanden. Handschlag. Sobald die Sache im Kollegium publik ist, meldest du dich, und ich zeige dir die Kammer.»

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Ferdinand, Freiherr von Werra – Kapitel 6

Die beiden Brüder sassen wie immer nach dem Unterricht auf der Steinmauer beim Turm. Lange schwiegen sie vor sich hin. Es war Ferdinand, der das Gespräch aufnahm.

«Alex, du bist der Glückspilz. Für dich ist die Plackerei beim Pfarrer zu Ende. Ich gratuliere zur bestandenen Aufnahme ins Kollegium in Brig. Gratulamur!»

«Danke, Brüderchen, ich bin froh, dass sie mich im Gymnasium haben wol- len.» «Wann gehst du nach Brig, und wie lange wirst du dort studieren müssen?»

«Das Semester beginnt Mitte September. Bis es so weit ist, muss ich mich vor- bereiten. Was muss ich nach Brig mitnehmen und was lasse ich hier? Am meisten freut mich, dass die Vokabeln-Büffelei eine Pause hat.»

«Ich beneide dich. Ehrlich! Ich muss noch zwei Jahren weiterochsen. Erzähle mir mal, wie dich die Jesuiten geprüft haben.»

«Das Kollegium in Brig ist eine Welt für sich. Die Patres unterhalten sich unter sich auf Lateinisch. Kaum zu glauben, dass man die komplizierte Sprache im Alltag benutzen kann. In der ersten Klasse, in der Prima, werden wir sechs Schüler, ich meine, sechs Studenten sein. Der Unterricht findet in Schulzim mern statt. Gegessen wird im Speisesaal. Alle Studis sind in schwarze Sutanen gekleidet. Geschlafen wird in einem grossen Schlafsaal. Es hat deren drei. Einer für die Kleinen, die Primaner, einer für die Tertianer und einer für die Matu randen. Im Ganzen wohnen 38 Studenten im Kollegium.

Ich wurde vor allem in Latein geprüft. Zuerst musste ich einen Teil aus ‹de Bello Galico› von Julius Cäsar auf Deutsch übersetzen. Da hatte ich Glück. Ich kannte die Passage aus unserem Unterricht. So konnten die Professoren auch feststellen, dass ich schreiben und lesen kann. Mündlich wurde ich über die Grammatik ausgequetscht. Am Schluss kamen das Rechnen und die biblische Geschichte dran. Die Prüfungen dauerten alles in allem vier Tage.»

«Wie hast du dich gefühlt so unter lauter Professoren und Studenten?»

«Es hat mir sehr gefallen. Alles war neu. Die vielen Studenten, der peinlich geordnete Tagesablauf. Geweckt werden – Morgentoilette – Kirchgang – Frühstück – Prüfungen – Mittagessen – eine Stunde frei – weiter mit Prüfungen– eine Pause – wieder in die Kirche – Abendessen – Nachtgebet – Stillschwei- gen – schlafen, bis es am nächsten Tag im genau gleichen Trott weitergeht.»

«Also kein Holzspalten mehr. Kein Gemüsegartenjäten mehr. Keine Stallarbeit mehr. Nur noch geistige Arbeit. Wenig freie Zeit. Ein Leben wie im Kloster.»

«Das wird sich zeigen. Dort gilt eben ‹ora et labora›.»

«Alex, du wirst uns fehlen.»

«In den Oster- und Sommerferien komme ich immer zurück nach Salgesch. Dann werden wir wieder zusammen sein. So wie jetzt. Ich kann dir dann alles erzählen, was man in einem Kollegium so treibt. Für dich ist das ein Vorteil. Ich werde dich lehren, was du wirklich wissen musst, um die Aufnahmeprüfung zu bestehen.»

«Die nächsten zwei Jahre wird mehr Arbeit im Haushalt anfallen. Ich frage mich, wie ich das wohl meistern werde.»

«Das wird sich alles schon geben.»

«Meine besten Wünsche begleiten dich nach Brig.»

«Nun werde mir nicht sentimental. Hier und heute hat sich nichts geändert. Auf gehts. Holzspalten, Pferd pflegen.»

Die Sonne versteckte sich schon hinter den Bergen. Sie standen auf und be- gaben sich zum Hof.

«Alles wird sich ändern», dachte Ferdi und führte Lisa aus dem Stall.

 

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Ferdinand, Freiherr von Werra – Kapitel 5

Inzwischen waren zwei Jahre vergangen. Der Sommer 1779 hatte begonnen.

Im Juli verbrachte die Familie vier Wochen im Schloss, es wurde jetzt konsequent »Werra-Schloss« genannt, in Agarn. Obschon Cousin Oberst Papa Alex kein Geld für die Renovation leihen wollte, hatte er sehr viel dazu beigetragen, dass das Schloss jetzt bewohnbar war Sein Gutsverwalter Ritz und seine Frau waren in den Personaltrakt des Schlosses umgezogen. Der Oberst brauchte in seinem Landwirtschaftsgut in Kampingen Platz für weitere Mitarbeiter. Mit dem Umzug des Verwalterpaares wurde das Problem gelöst. Die Weiden des Schlosses wurden urbar gemacht. Dort weidete nun die Kuhherde von Cousin Oberst. Die Tiere lieferten die Milch für die Käserei im Leuker Grund. Im Brunnen floss wieder sauberes Quellwasser. Es wurde über Holzkenneln von der Quelle Properry gespeist. Der grösste Teil des Umschwungs des Schlosses war saniert und wurde bewirtschaftet. Zwei Angestellte des Hofs in Kampinen kümmerten sich um den Vorgarten. Alles Unkraut wurde entfernt. Das Interieur des Schlosses war noch weit vom gewünschten Luxus entfernt. Immerhin waren die Fenster dicht. Davor wuchsen Geranien. Alle Türen hingen im Lot in den Angeln und konnten verriegelt werden. In der Küche wurde wieder ge- kocht.

Die Schlafgemächer für die Familie waren noch spartanisch eingerichtet. Es hatte aber genügend Betten. Für einen Daueraufenthalt fehlte noch beinahe alles. Der Status konnte am besten mit einer einfachen Alphütte verglichen wer- den. Während die Familie im Sommer dort wohnte, ging es vor allem darum festzustellen, was es noch alles brauchte, um dort das ganze Jahr standesgemäss wohnen zu können. Es fehlte noch sehr viel.

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Ferdinand, Freiherr von Werra – Kapitel 4

Freitagabend, nach dem Nachtessen im Esszimmer des Balethauses. Das Abendessengeschirr war abgeräumt. Das weisse Tuch lag noch auf dem Stuben- tisch. Die übliche Ordnung, wie es sich nach einem Nachtessen gehört, war noch nicht völlig hergestellt. Die beiden Frauen, Mama und die Köchin, beide sangen im Kirchenchor, mussten wie jeden Freitagabend in die Probe. Sie lies- sen Papa Alex und die beiden Buben am abgeräumten Tisch zurück. Nur die Kerzen brannten noch und der Kaffee war nicht entfernt. Den dreien war es recht, einen Abend zu haben, um als «Männer» unter sich zu sein. Ein Weil- chen sassen sie schweigend da. Jeder ging seinen Gedanken nach. Es war Alex, der die Stille unterbrach.

«Papa, Ferdi und ich möchten mit dir reden. Wir sind immer noch von unse- rem Ausflug und dem Besuch bei Cousin Oberst beeindruckt. Es hat uns gefal- len, zu erleben, wie richtige Adlige unserer Familie den Haushalt führen. Wir haben uns darüber unterhalten und uns gefragt, was zu unternehmen sei, dass auch wir in unserem Schloss in Agarn wohnen und leben könnten.»

Papa Alex schaute die beiden mit traurigen Augen an, kramte seine Pfeife aus der Tasche und zündete sie umständlicher als üblich an.

«Wir sind nicht in der Lage, standesgemäss zu leben. Es fehlt uns an allen Ecken. Allein schon den Balet-Haushalt zu schmeissen, bringt mich an den Rand des Ruins.»

Erschrocken schauten sich die Brüder an. Damit hatten sie nicht gerechnet.

«Das darf nicht die Wahrheit sein», dachte Ferdi, «es scheint, Papa hat jeg- lichen Mut verloren. Ich muss ihn umstimmen. Ihm Mut machen.

Papa! Mir hat es im Majorshof gefallen. Für mich ist Cousin Oberst ein Vor- bild. Wie der seine Latifundien in Ordnung hält. Alles stimmt. Ob Haus oder Garten oder Stallungen, alles ist sauber gepflegt, blitzblank in Ordnung. Solch einen Besitz sollten wir auch haben. Noch mehr hat mich auf dem Ausflug der miserable Zustand unseres Schlosses im Rottental beeindruckt. Was sage ich, beelendet. Da muss etwas geschehen. Wir dürfen das Anwesen der Familie nicht unbeaufsichtigt vermodern lassen.»

«Für dein Alter bist du recht keck, mein Lieber. Als ihr im Garten wart, habe ich dem Oberst mein Herz ausgeschüttet. Ich habe ihn um ein Darlehen ange- sucht. Das hat er ohne Begründung abgelehnt. Ich stand da wie ein armer Bett- ler. Ich schämte mich, als heruntergekommener Junker dazustehen. Wenn ich es jetzt überlege, heisst das, ohne dass es ausgesprochen wurde: selbst schuld, ihr habt die ganze Mitgift in Salgesch verprasst. Das war sehr erniedrigend. Am Schluss hat er mir ein Almosen angeboten. Sein Gutsverwalter im Tal wohne in der Nachbarschaft des Mageranschlosses. Er könnte stundenweise bei den Aufräumarbeiten helfen.»

«Das ist doch ein Lichtblick», nahm Alex den Faden des Hilfsangebots des Obersten wieder auf.

«Das Mageranschloss darf nicht verkümmern. Wir müssen einen Plan machen, wie wir aus der Misere herauskommen wollen. Ihn mit Oberst Werra bespre- chen und schauen, wieviel Hand er anzulegen bereit ist. Der Vorteil, so fliesst kein Geld. Es gibt keine zusätzlichen Schulden. Unsere Finanzen werden nicht noch mehr geschmälert. Wenn wir alle, die ganze Familie mit allen Onkeln und Tanten und dem ganzen Personal, Hand anlegen und hart arbeiten, könnte es gelingen.»

«Genau», rief Ferdinand. Er war von der Ansprache seines Bruders aufge- kratzt. «Wir müssen mit der Umgebung beginnen, dem Garten und den Wei- den. Diese könnten wir Cousin Obersts Vieh zum Grasen zur Verfügung stel- len. Dann müssen die Fenster und die Läden in Ordnung gebracht werden und auf allen Fenstersimsen Blumenkästen mit Geranien aufgestellt werden. Wenn das so weit ist, ist der Anblick der Verwahrlosung aus dem Weg geschafft.

Dann folgt die Putzaktion. Ich habe mir das genau ausgedacht. Das ganze be- wegliche Inventar, die Möbel, die Kästen, die Truhen müssen aus dem Haus transportiert werden. Vorläufig werden sie in der Remise und den leeren Stal- lungen gelagert. In dem nun leeren Haus wird alles geputzt, alle Spinnenweben entfernt, alle Böden geschrubbt. Immer alle Fenster und Türen offenhalten, damit der muffige Geruch ins Freie kann. Die festgestellten Schäden an Tü- ren, Fenstern und Böden werden repariert. Ist das Schloss wieder so weit, dass es sicher verschlossen werden kann, müssen im Personaltrakt für zwei bis vier Personen die Zimmer und die Toiletten in Ordnung gebracht werden. Dann müssen wir den Oberst dazu überreden, dass das Gutsverwalterehepaar dort dauerhaft wohnen könnte. Ein Haus ist nur brauchbar, wenn es ständig bewohnt wird.»

«Wenn das gelingt, ist das Gröbste überstanden», beendete Alex die Rede seines Bruders.

Tränen liefen über Papas Wangen und verloren sich in seinem Bart. Das unbekümmerte Engagement seiner Kinder hatte ihn gerührt. Die Jungen legten sich für das Schloss ins Zeug.

«Wann habt ihr zwei das alles ausgeheckt?» Dies war das Einzige, was der Vater zu sagen in der Lage war.

«Wir schlafen ja nicht in Einzelzimmern, wie es sich für Junker gehört», maulte Ferdinand.

Papa Alex hatte sich wieder gefasst. «Wir Werras sind sehr gut im Planen von Luftschlössern. Wenn der Plan Wirklichkeit werden soll, muss viel Vorarbeit geleistet werden. Wir werden mit allen Familienmitgliedern Einzelgespräche führen müssen, um sie zu motivieren, körperlich mitzukrampfen. Das braucht viel Überzeugungsarbeit. Niemand von denen macht sich wegen Arbeit gerne dreckige Hände. Beim Personal ist es einfach. Die haben zu tun, was wir sagen. Weiter sollten wir uns einen Plan über die zeitlichen Aktionen machen. Wann fangen wir an. Bis wann ist der Garten bepflanzt, sind die Weiden eingehagt und so weiter. Wenn soweit Klarheit herrscht, müssen wir daran denken, dass jemand die Arbeit leitet und überwacht, mit den Handwerkern verhandelt und alle die Kleinigkeiten im Blick hat, damit zügig, ohne allzu viele Hindernisse gearbeitet werden kann. Es braucht einen Chef.»

«Bravo, Papa, du hast angebissen. Ich werde alles zu Papier bringen und den Zeitplan und Mitarbeitereinsatz übersichtlich darstellen. Wir müssen etwas Überzeugendes zur Hand haben, wenn wir mit den Onkeln und Tanten und vor allem mit Cousin Oberst sprechen werden. Wir müssen überzeugen kön- nen, dass der Plan Hand und Fuss hat.» Alex nahm den letzten Schluck kalten Kaffees aus seiner Tasse.

«Und ich werde mir noch ein paar Gedanken über die Kosten machen. Allein mit Fronarbeit bringen wir das Werk nicht in Bewegung», ergänzte Ferdinand.

«Was verstehst du schon von Geld?»

«Lass mich nur machen.»

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Ferdinand, Freiherr von Werra – Kapitel 3

Alex und Ferdinand hockten auf der kleinen Bruchsteinmauer beim Turm. Es hatte sich so eingebürgert. Nach dem Unterricht beim Pfarrer sassen die Brü- der gerne zusammen. Es ging darum, von der Atmosphäre des Pfarrhauses, in dem es immer ein bisschen nach Weihrauch roch, in die Realität des Alltags zurückzufinden. Im Grunde waren beide stolz, zu den wenigen Auserwählten zu gehören, die unterwiesen wurden. Sie galten als gute Schüler. Der Pfarrer war mit ihren Leistungen zufrieden. Alex war besonders gut in Latein. Er liebte es, die Sprache gut zu lernen und zu verstehen. Besonders faszinierte ihn die messerscharfe Logik der lateinischen Grammatik. Es war wie beim Schachspie- len, jeder Fehler wurde sofort sichtbar. In Gegensatz zum Schach konnte man Fehler, hatte man sie bemerkt, sofort korrigieren. Alex verglich die Struktur der Grammatik mit einem Schachbrett. Allerdings mit einem kleinen Brett, vier Quadrate lang und vier Vierecken breit. Und mit nur je vier weissen und vier schwarzen Figuren.

Ferdi war nicht so gut in Latein. Das Auswendiglernen der Vokabeln machte ihm Mühe. Er konnte sich dafür fürs Rechnen begeistern. Er konnte das kleine und das grosse Einmaleins auswendig und fehlerfrei. Er sah dieses Zahlensystem systematisch angeordnet vor seinem geistigen Auge. Zahlen waren für ihn mehr als nur Möglichkeiten, etwas zu berechnen. Für Ferdinand waren Zahlen eine Aufforderung, Geheimnisse zu ergründen. Drei mal sieben ist 21. Nicht 20 und nicht 22. Es gibt nur eine einzige richtige Lösung: 21. Ebenso 17 x 13 = 221. Es hatte lange gedauert, bis er zu den grossen Zahlen durchfand. Bis er so weit war, dass er 237×362=85´794 schriftlich ausrechnen konnte. Der Pfarrer hatte ihm einige Tricks beigebracht, wie man dort zurechtkommt. Die Finessen des schriftlichen Vorgehens hatte er selbst entwickelt. Beim Teilen wurde es komplizierter. 40:5=8 ist nichts anderes als eine umgekehrte Multiplikation. Für ihn ist 247:13=19 nichts anderes als das umgekehrte grosse Einmaleins. Bei den ganz grossen Zahlen 158569:617=257 hatte er noch keine Methode gefun- den, das richtige Resultat zu finden. Ein Trost, der Pfarrer konnte es auch nicht fehlerfrei. Da fiel ihm ein, dass es jemand in der Gemeinde gab, der das konnte. Es war der Geometer, Herr Theobat Constantin. Der hatte eine gleichaltrige Tochter wie Ferdinand. Als Mädchen ging sie natürlich nicht beim Pfarrer in den Unterricht. Frauen brauchten nicht lesen und schreiben zu können. Laetitia, so hiess sie, könnte ihm den Weg zu ihrem Vater ebnen. Bei diesem könnte er weitere Kenntnisse im schriftlichen Rechnen mit grossen Zahlen erwerben. Ferdinand beschloss, sich an die Maid heranzumachen.

«Das war gestern ein schönes Erlebnis bei Cousine Cathérine auf dem Majors- hof.» Alex riss Ferdi aus seiner Zahlenwelt zurück in die Realität.

«Ja, schon.»

«Es ist ein schönes Schloss mit einem grossen Garten und mit beeindruckend vielen Portraits an den Wänden.»

«So lebt eine adlige Familie. Personal für alles. Moritz und Ignaz werden nie schmutzige Hände von der Arbeit haben. Und auch keine Schwielen vom Holzspalten an den Fäusten. Bei denen wird alle Arbeit von Bediensteten erledigt. Den Garten jäten, die Pferde bürsten, den Tisch decken. Wie es sich gehört. Adlige Herrschaften lassen arbeiten. Sie leben in Schlösser an schönster Lage und regieren das Land. Genauso wie Cousin Oberst.»

«Stimmt.»

Salgesch vom Turm aus

«Nur wir nicht. Wir sind zwar adlig, haben aber kaum Personal. Wir zwei können von Glück reden, dass wir vom Pfarrer unterrichtet werden und so ins Gymnasium kommen werden. Dann studieren und eine Frau mit einem Schloss heiraten. Bis jetzt ist es nur ein Luftschloss. Wer spaltet bei uns das Holz? Wer besorgt das Pferd? Wer jätet den Gemüsegarten? Wer kommt abends von Staub und Schmutz bedeckt nach Hause? Nicht die Angestellten, die wir nicht ha- ben. Wir zwei sind es!»

«Ein Schloss haben wir wenigstens.»

«Das war für mich das beeindruckendste Erlebnis gestern. Dieser in der Rot- tenebene liegende, total vergammelte Steinhaufen, genannt Mageranschloss. Es ist schon seit Generationen in unsere Familie und kein Mensch nennt es Werra-Schloss. Warum wohl? Weil wir dort nicht leben, nicht residieren. Weil uns das Gesinde fehlt, Garten und Gebäude sauber und instand zu halten. Das darf doch nicht sein!»

«Du scheinst ein prunkvolles Leben zu lieben.»

«Das ist mein Traum. Ich liebe ein gepflegtes, adliges Dasein über alles. Mit genügend gutem Personal. Eine herrschaftliche Unterkunft und grosse Freiheit. Leider ist das heute und hier in Salgesch nicht möglich. Aber glaube mir, Alex, ich werde meinen Traum verwirklichen.»

«Was können wir da schon ausrichten? Ich bin zufrieden hier in Salgesch. Mir geht es gar nicht so schlecht. Die Aussicht, bald ins Kollegium zu kommen, ist gut. Ich leide keinen Hunger. Auch plagt mich keine Langeweile. Die Leute sind freundlich und nett zu mir. Eigentlich bin ich zu beneiden. Vielen hier- herum geht es weit schlechter.»

«Alex, so darf ein Junker der Werras nicht denken und schon gar nicht reden. Unser Ziel muss es sein, dass wenigstens wir, wenn wir erwachsen sein werden und eine gute Ausbildung haben, in unserem Schloss residieren. Wir müssen mit Papa reden.» Ferdinand sprang als Erster von der Mauer. Alex folgte ihm. Die beiden schlenderten zum Hof. «Die Erde hat uns wieder», damit schloss Alex die hochtrabenden Gedanken ab und suchte nach der Axt, um Holz für die Küche im Balethaus zu spalten.

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Ferdinand, Freiherr von Werra – Kapitel 2

Beim Nachtessen hatte die kleine Schwester den Auftrag, nicht zu reden. Stän- dig plapperte sie über ihre Puppen und ihre Bauklötze. Immer wieder wurde sie von Mama zurechtgewiesen: «Patientia, wenn Erwachsene am Tisch sitzen, haben Kinder zu schweigen. Wenn sie etwas sagen möchten, müssen sie um Er- laubnis bitten.» Die Ermahnung nützte wenig. Ständig platzte die Kleine mit ihrem Gerede dazwischen. Alex und Ferdinand sassen schweigend da. Nicht ohne sich vielsagend anzuschauen und mit den Augen zu zwinkern.

Papa hatte seine Pfeife schon angezündet. Der Tisch war abgeräumt. Alex und Ferdinand hatten zusammen diese Arbeit übernommen. Als sie aus der Küche zurück waren, richtete sich Papa Alex an sie: «Morgen habe ich im Schloss zu tun. Wollt ihr zwei mitkommen?» Was für eine Frage! «Klar, gerne!» Die Antwort kam im Duett.

Lisa trottete im Gleichschritt vor sich hin. Die Sonne strahlte, wie man es im Wallis gewohnt ist. Viktor hatte das alte Karriol angespannt. Papa hatte die Zügel übernommen. Zu dritt wurden sie auf dem Weg ins Tal hin und her ge- rüttelt. Alle hingen ihren Gedanken nach. Das linke Rad der Karre quietschte von Zeit zu Zeit. «Viktor hat wieder vergessen die Naben zu fetten», murmel- te der Vater.

«Viktor hat mir gesagt, man könne fetten so viel man will. Die Naben sind kaputt. Der Wagen gehört in die Wagnerei von Michel Willa.» Papa Alex er- läuterte seinem ältesten Sohn, dass das noch Zeit hätte.

«Hoffentlich verlieren wir kein Rad und haben keinen Unfall. Ich möchte nicht zu Fuss nach Hause zurück.» Das Trio hatte das Balethaus um neun Uhr Richtung Leuk verlassen. Als sie die Kirche von Varen hinter sich gelassen hat- ten, fragte Alex Junior, warum ausgerechnet heute dieser Ausflug geplant sei.

«Ich muss im Schloss zum Rechten schauen.»

«Es gehört doch zur Familie. Von wem hast du es bekommen?» Mit einem kräftigen Ruck war Ferdinand aus seinen Gedanken wachgerüttelt worden. Das Gefährt war mit dem einen Rad über einen grossen Steinbrocken gefahren und gefährlich ins Schwanken geraten.

«Ich habe es von meinem Vater, deinem Grossvater, geerbt. Der wiederum hat es von seinem Vater geerbt. Ende des 17. Jahrhunderts kam es durch Urgross- vater Gabriel in den Besitz unserer Familie.»

«Wie alt ist unser Schloss?»

«Etwas mehr als 330 Jahre. Es wurde in der Mitte des 15. Jahrhunderts ge- baut.»

«Ganz schön alt. Das Schloss gehört also dir. Du hast es geerbt. Wie läuft das eigentlich mit dem Erben?»

«Das geht so, mein Ferdinand: Jedermann besitzt Ware, Fahrhabe, Grundstücke, die den Besitzer überleben. Wenn ich sterbe, geht das Schloss an den ältes- ten Sohn der Nachkommenschaft.»

«Pech für mich. Alex wird somit der zukünftige Schlossherr.»

«Es ist wichtig, dass der Grundbesitz und die Gebäude, die darauf stehen, in der Familie bleiben. Mit dem Familienfideikommis wird im Erbrecht geregelt, dass das Vermögen unserer Familie auf ewig der Werrafamilie erhalten bleiben soll. Man hat beim Erben gewisse Regeln festgelegt, an die sich alle halten. Der älteste Sohn erbt Grund und Boden. Der zweite macht sein Glück als Offizier in fremden Diensten. Der dritte geht in den geistlichen Stand. Wird Priester oder Mönch.»

«Gut so! Ich, der Schlossherr, du, der Soldat und Patientia ins Kloster.»

«Ich will gar kein Offizier werden. Der Kriegsdienst ist ein gefährlicher Beruf. Da kommt man meistens nicht mehr lebend nach Hause zurück. Der Helden- tod auf fremder Erde ist das Ende. Ich möchte leben und nicht für einen frem- den Herrscher sterben.»

«Genug jetzt. Vorläufig leben wir alle noch.»

Am Brunnen vor dem Rathaus in Leuk wurde ein Marschhalt eingelegt. Lisa stillte ihren Durst. Der Vater hatte sich mit seinen Söhnen zwischen dem Rat- haus und dem Bischofsschloss aufgestellt. Alle blickten nach Süden ins Rhone- tal. Vor ihnen der Illgraben. Heute ein armseliges Rinnsal. In Zeiten der gros- sen Schneeschmelze ein reissender Wildbach. Er liegt eingebettet im Pfynwald, dem grössten Kiefernwald weit und breit. In der Mitte dieses Waldes hat sich eine grosse Rodungsfläche gebildet, in dem sich der Weiler Pfyn befindet. Die Gegend ist gefürchtet. Räuber treiben dort ihr Unwesen. Von diesen Machen- schaften hat die Stadt Leuk seit jeher einen Vorteil gezogen. Händler und Rei- sende, die von Brig nach Siders und Sitten wollten, meideten den Weg durch den Pfynwald. Sie zogen es vor, in den Susten über die Holzbrücke durch Leuk über die Dalaschlucht nach Varen weiterzuziehen. Viele der Reisenden mach- ten in einer der Herberge Quartier. Das Städtchen entwickelte sich. Es wurde zum bedeutenden Marktflecken. Der Brückenzoll in den Susten und an der Dala sorgte für tüchtige Einnahmen.

Leuk-Stadt

Leuk wuchs neben Brig und Sitten zur drittwichtigsten Stadt empor.

Das Illhorn und der Gortwetsch auf dem linken Ufer des Rotten schloss den Ausblick der drei Reisenden nach Süden ab.

«Ganz weit nach links», Papa streckte den Arm aus, «in einer halben Stunde sind wir dort.»

Steil hinab ging es dem Rotten zu. Papa musste die Handbremse fest anzie- hen, damit Lisa nicht von der Strasse abgedrängt wurde. Beim Überqueren des Stroms hörte man ihre Füsse auf den Holzbohlen der Brücke klappern. Das Karriol war jetzt an der Färbi vorbei auf dem linken Ufer des Rotten. Von Ferne hörten die Reisenden den Glockenschlag vom Turm der Kirche St. Stephan. Es war eben elf Uhr. Die Landschaft lag noch im Schatten der hoch aufstrebenden Berge im Süden. Sie waren beim Schloss angelangt. Noch kein Sonnenstrahl er- leuchtete die Liegenschaft. «Ein schönes Schattenloch», bemerkte Ferdinand trocken.

«Schauen wir uns zuerst die Umgebung an. Es ist ein grosses Grundstück.» Der Schlossgarten glich einer Wildnis. Spriessendes Unkraut, soweit das Auge reichte. Da stand das Schloss von Alex! An der Umgebungsmauer, mit run- den Pfeffertürmchen an den Ecken, zeigte sich das imposante Portal mit dem schmiedeeisernen Gitter. Dahinter der Wohntrakt mit dem runden Turm. Der diente als Treppenhaus.

Lisa war schon aus dem Geschirr. Ferdinand hatte sich ihrer angenommen. Die üppige Weide im Schatten der Platanen bot sich als Verpflegungsplatz des Pferdes an. Papa Alex hatte inzwischen das Gittertor aufgeschlossen. Zu dritt unternahmen sie die Begehung der Liegenschaft. Alles zeigte auf ein ungepfleg- tes Haus hin. Ein schlechter Eindruck. Unkraut im Garten, die Felder gehörten gemäht. Beeindruckend war einzig die Grösse des Grundstücks. Zwei moosbe- deckte Löwen bewachten die Eingangstreppe ins Gebäude. Aus jeder Ritze der achtstufigen Stiege wuchs Löwenzahn und Vergissmeinnicht. Das Geländer, die Handläufe links und rechts waren so stark verrostet, dass man aufpassen musste, beim Berühren die Hände nicht zu verletzen.

Papa versuchte, die schwere Nussbaumtüre zu öffnen. Es dauerte eine Weile, bis es gelang, den Schlüssel zu drehen und die Türe zu bewegen. Sie hing schief in ihren Angeln. Alle drei mussten gemeinsam alle Kraft aufbringen, um das Portal zur Seite zu schieben. Es gelang langsam unter Quietschen und Ächzen und einem Schleifen am Boden. Die schliesslich offene Tür hinterliess auf dem staubigen Boden eine halbkreisförmige Spur. Hier war schon lange niemand mehr ein und aus gegangen. Im Innern bot sich ein ähnlich trübseliger Anblick. Spinnengewebe in allen Ecken. Überall lag fingerdick der Staub. Die Luft war von einem muffigen Geruch geschwängert.

«Zuerst machen wir jetzt alle Türen und Fenster auf, damit Durchzug entsteht und frische Luft hereinkommt. Ihr kümmert euch um das hier unten. Alles öffnen. Ich begebe mich in die oberen Etagen und mache dasselbe. Wenn ihr fertig seid, wartet ihr draussen. Dann gibt es etwas zu essen, sobald ich oben fertig bin.»

Die Eingangshalle, die Empfangszimmer und die Küche im Parterre waren bald vom Winde durchweht. Oben in der Bel Etage wurden die Gesellschaftsräume und die Kapelle genau so gründlich gelüftet. Im zweiten Stock wurden Esszimmer, diverse andere Zimmer und die Bibliothek vom muffigen Geruch in der Luft befreit. So einfach, wie das tönen mag, war es nicht. Viele Fenster liessen sich nur mit Gewalt öffnen. Einige liessen sich überhaupt nicht bewegen.

Gegen ein Uhr sassen alle auf den Stufen des Haupteingangs und vergnügten sich am mitgebrachten Essen. Die Köchin hatte Brot, Käse und Hauswürst- chen eingepackt. Zu trinken gab es Picket. Mama hatte zum Dessert einen Aprikosenkuchen mit einem süssen Guss darauf gebacken. Die Sonne schaute zwischen den Bergen im Süden hervor und brachte den Agarnern die ersten Strahlen. Das Schloss und die Umgebung standen im grellen Licht. Der Essens- korb war bald leer, die Reisegesellschaft gesättigt. Alle hatten es sich auf der Eingangsstiege bequem gemacht, streckten die Füsse von sich und schauten in den Garten an der Mauer vorbei zum Tor hinaus. Nach der reichlichen Mit- tagspause ermahnte Papa zu weiterer Arbeit. «Alex, suche einen Eimer oder ein anderes Geschirr. Hole Wasser an der Quelle und gib Lisa zu trinken. Du, Ferdi, gehst mit deinem Bruder und spülst das Essgeschirr und bringst dann den Korb in den Wagen. Ich warte hier, bis ihr zurück seid.»

Papa Alex, allein gelassen, zündete seine Pfeife an und überdachte die Lage. Das Schloss befand sich in einem desolaten Zustand. Das war zwar nichts Neues, aber ein grosses Problem. Die Spatzen pfiffen es von den Dächern: «Die Wer- ras haben nicht genug Mittel, eine so grosse Latifundie zu unterhalten.» Das Gebäude den Launen der Natur zu überlassen und zusehen, wie es vergammelt, war auch keine Lösung. Immerhin hatte das Gemäuer 300 Jahre auf dem Buckel und war immer noch in brauchbarem Zustand. Es sprach nichts dagegen, hier zu wohnen. Vorausgesetzt, die Liegenschaft würde gepflegt, man hätte genug Personal und eine Schatulle, aus der die laufenden Instandstellungen finanziert werden konnten. Weder J.J. Alex noch sein Vater hatten das Talent, ein solches Gut richtig zu bewirtschaften. Sie waren nicht dazu erzogen worden, richtig mit Geld umzugehen. Das Geerbte zu mehren und für Einnahmen zu sorgen, war ihnen fremd. In wahrstem Sinne war hier guter Rat teuer. Eine Lösung zeichnete sich jedoch am Horizont ab. Der Arzt aus Siders hatte Interesse am Schloss. Er wäre bereit – vorausgesetzt der Preis stimmte –, es zu kaufen. Ihm fehlte das Geld nicht, den alten Glanz wieder herzustellen. Nur – so etwas macht ein Edelmann nicht. Liegenschaften werden nicht verkauft. Die müssen in der Familie bleiben. Nichts ist so solide wie Grund und Boden. In Ausnahmefällen käme ein zeitlich befristetes Vermieten infrage. Um Zeit zu gewinnen und etwas zu verdienen. Dann wäre da noch die Schmach. Ein Adliger, der sein Schloss verkaufen muss, ist gesellschaftlich bankrott. Alex steckte mit seinem Gebäude tief in der Klemme, in der Zwickmühle. Heute kam ihm so richtig zum Bewusstsein, wie er zwischen Stuhl und Bank sass.

Es war nicht zu überhören, die Buben kamen mit Gesang und Gejohle zurück. Sie rissen den Vater aus seinen morbiden Gedanken. Papa Alex gab sich einen Ruck, stand auf, gab die Befehle durch. «Jetzt wird das Schloss vom Keller bis zum Dachboden, vom Garten bis zu den Stallungen kontrolliert. Alle Tü- ren und Fenster werden wieder geschlossen. Dort, wo es Schlösser hat, wird verriegelt. Ihr sollt wissen, wie es um unser Anwesen steht. Das soll in euren Erinnerungen verankert sein! Los, an die Arbeit!» Alle zogen los. Durch das Haupttor kamen sie in ein Vestibül, welches links und rechts von zwei Emp- fangszimmern flankiert war. Hier bat in der glanzvollen Vergangenheit der La- kai jeweils die Besucher, einen Augenblick zu warten, bis sie beim Hausherrn gemeldet worden seien. Es waren kleine Salons gewesen. Auf den Tischen stan- den immer Wasser und Wein in kristallenen Karaffen bereit. Der erste Ein- druck musste dem Besucher signalisieren, dass es in diesem Haus gepflegt zu und her gehe. Davon war heute nichts mehr zu sehen. Einzig ein wackeliger Tisch erinnerte noch an bessere Zeiten. Beim Verlassen des Vestibüls empfing den Besucher eine grosse Halle. An der Decke hing noch ein Leuchter, auf dem einmal 24 Kerzen gebrannt hatten. Diese waren längst ausgebrannt. Ein grosses Spinnennetz zeugte von jetzigen Bewohnern. In einer Ecke stand ein Billardtisch. Die Kugeln und die Queues waren noch da. Der grüne Filz war von den Mäusen und Ratten fast völlig zerfressen.

Von hier ging es nach links zum Esszimmer, zur Küche, zur Economa und zum

Aufenthaltsraum für das Personal. Hier wurden auch die Kutscher und die Kuriere anderer Eliten aufgewärmt und verpflegt. Rechts befanden sich der grosse Salon, die Bibliothek und das Musikzimmer. Ganz hinten nahm der zylindri- sche Turm das Stiegenhaus auf. In der ersten, der Bel Etage, befanden sich der grosse Festsaal, die Kapelle und die Privatgemächer der Herrschaft. Gegen Osten lagen die Gästezimmer für geladene Gäste. Schliesslich die Besenkammer, die Aborte und jede Menge von Kästen, Truhen und Schränken. Noch weitere Räume befanden sich im zweiten Stock: Studierzimmer, Nähzimmer, einfache Gästezimmer für die Kutscher der Gäste, Personalunterkünfte und der Kleider- fundus. Ganz oben unter dem Dach lagen weitere Zimmer für das Personal. Unter dem Schloss waren ein grosser Weinkeller, der ganze Kellereibetrieb mit Driel und dem Flaschenlager. Ein kleines Carnozet hatte einen Ausgang ins Freie. Hier wurden auch das Traubengut und die Fässer angeliefert.»

«Das sind mehr als 32 verschiedene Räume», sagte Ferdinand, als sie wieder im Garten standen.

Schloss von Werra im Tal des Rottens bei Agarn

Alle Fenster, Türen und Tore waren wieder verschlossen und verriegelt. Im Vor- garten stand, ganz mit Unkraut verwachsen und ausgetrocknet, ein Springbrun- nen. Weiter ging es zu den Stallungen. Auch die hatten schon bessere Zeiten gesehen. Das Gebäude war in drei Räume aufgeteilt: Eine Remise für Kutschen, Fahrzeuge und Pferdeschlitten, in der Mitte sechs Boxen für die Pferde und am anderen Ende eine Werkstatt für den Hufschmied und den Gärtner. Das Gewächshaus hatte keine einzige heile Scheibe mehr. Alle waren zerschlagen.

Übrig blieb nur noch ein rostiges Gestell als Schuppen für die Gartengerät- schaften. Um das Schloss herum fielen nicht unterhaltene Weiden und wild wachsendes Gebüsch auf. Was für ein verwahrloster Eindruck. «Das lässt sich in dem Zustand nicht einmal verkaufen», dachte der Vater, als sie das Karriol für die Heimreise bereit machten.

Los ging es mit Pferd und Wagen Leuk zu. Zwei Räder und drei schweigsame Gesellen. Eine bedrückte Stimmung fuhr als blinder Passagier mit. Als sie an den Lichten vorbei waren, das Rathaus war schon sichtbar, unterbrach der äl- teste Sohn die elende Stille. Die Kirchenuhr schlug eben drei. «Unser Schloss ist wirklich nicht schön!», flüsterte Alex. «Nicht schön ist gut! Völlig her- untergekommen ist es. Möchtest du, Alex, zusammen mit Spinnen und Mäusen wohnen?»

«Leider kann ich dir nicht widersprechen. Im heutigen Zustand würde dort niemand wohnen wollen. Etwas muss geschehen.»

«Wenn wir nur alles sauber machen würden, die Fenster putzen, die Küche in Betrieb nehmen und den Garten vom Unkraut befreien, wäre das ein erster Schritt», war die altkluge Antwort von Alex.

«An so etwas habe ich gedacht. Es geht nicht nur ums Reinemachen. Ein solches Anwesen will unterhalten sein. Das geht nur, wenn dort jemand das ganze Jahr über wohnt. Das Haus muss leben. Was bedeutet, es braucht Personal. Personal verursacht Kosten. Nicht nur Kost, Logis und Lohn. Es kommen Hilfsmittel, Apparate und Kurzwaren dazu. Das alles muss gekauft und bezahlt werden. Und uns fehlt dieses Geld.»

«Urgrossmutter Anna hatte doch ein grosses Vermögen in die Familie ge- bracht, als sie Urgrosspapa heiratete.»

«Du hast Recht, Alex, mein Vater hat eine gute Partie gemacht Balets waren die Reichsten im Lande. Ihnen gehörte halb Salgesch. Die Mitgift bestand vor allem aus Grund und Boden, Möbeln und Geschirr, sehr wenig Bargeld.»

«Wie kommt man zu Bargeld?»

«Indem man etwas Wertvolles verkauft.»

«Zum Beispiel ein Schloss?»

«Das wäre eine Lösung, aber keine gute. Ein Edelmann und Junker braucht Grund und Boden. Das verkauft er nicht.»

Das Karriol bog gerade in die Varengasse ein, als Papa Alex durch den Kopf ging, einen Besuch bei den Cousins im Majorshof zu machen. Das war eine gute Idee. Die beiden Jungen freuten sich, ihre etwa gleichaltrigen Cousins zu treffen. Worauf Papa Alex streng die Benimmregeln durchgab:

«Der Hausherr ist ein alter Oberst in französischen Kriegsdiensten und wird mit ‹Herr Oberst› oder ‹Cousin Colonel› angesprochen. Seine Frau kommt aus Sitten und spricht grundsätzlich nur Französisch und wird mit ‹Cousine Cathérine› angeredet. Ihr zwei zeigt euch von der besten Seite. Immer mit zwei Worten antworten: ‹Merci, ma cousine›, ‹oui, mon Colonel›. Sie haben fünf Kinder. Einer heisst Moritz und ist ein Jahr älter als du, Lexi. Der zweite heisst Ignaz und ist jünger als Moritz. Dann sind da noch drei weitere Kinder, deren Namen ich vergessen habe.» Ehrfurchtsvoll versprachen Alex und Ferdi, sich vorbildlich zu benehmen.

Das Karriol war eben in den Vorhof eingefahren, als die Gäste schon vom Stallknecht begrüsst wurden. Das Gefährt war noch nicht um die Ecke zu den Stallungen verschwunden, als die schwere Haustür aufging und der Kammer- diener Sebastian die Verwandten empfing. Weiter kam er nicht. Der Hausherr hatte die Anfahrt seiner Verwandten wahrgenommen und bemühte sich, diese standesgemäss zu empfangen. «Mon cher cousin! Quel plaisir. Soyez le bienvenu.» «Hier sind wir plötzlich in Savoyen», murmelte Ferdinand, «reden hier eigentlich alle Welsch?»

«Pst, keine faulen Bemerkungen.»

Sie kämen pünktlich, «pour les quarts d‘heure», fand Cousine Cathérine. Eiligst wurden drei Gedecke nachgelegt. Da öffnete sich die Tür zum Esszimmer. Gleichzeitig und unüberhörbar stürmten Moritz, Ignaz und Thérèse herein, alle im Alter von Alex und Ferdi. Der Empfang war herzlich und wurde von den Gästen als echt und unverfälscht empfunden. Gesellig sass man zu Tisch. Tee und Limonade wurden gereicht. Die Erwachsenen unterhielten sich über dies und das. Die Kinderschar benahm sich vorbildlich. Kein ungefragtes Wort wurde gesprochen ausser »merci« oder »oui, ma cousine«. Umso mehr wurde Brot mit Butter und Aprikosenkonfitüre und Kuchen verspeist.

Nach einer guten halben Stunde gab Cousine Cathérine das erlösende Wort. Die Kinder dürften sich im Garten vertun.

Für den Oberst das Signal, sich mit Papa Alex in die Bibliothek zurückzuziehen. Mit einem Glas Cognac und einer Montheyer Zigarre waren die beiden beim Thema: Das Schloss im Tal bei Agarn. Nach einer guten Stunde war klar, es hatte nichts als gute Ratschläge gegeben. Der Oberst sei leider nicht in der Lage, seinem Cousin finanziell unter die Arme zu greifen. Das Schloss müsse unbedingt in der Familie bleiben. Die Bausubstanz sei gut. Gebäude und Umgebung müssten unbedingt in Ordnung gebracht werden. Hierfür könne der Oberst Personal zur Verfügung stellen. Viel Glück für die Suche nach einem günstigen Kredit für die Innensanierung.

Majorshof in den Galdinen

Das war die Zusammenfassung, welche auf dem Gang von der Bibliothek zur Haustüre stattgefunden hatte. Das Karriol stand schon bereit. Die Kinder sas- sen bereits auf. Papa Alex übernahm die Zügel. Freundliche Wünsche zum Ab- schied und hinaus aus dem Hof, Varen zu.

 

Bis kurz vor Varen wurde auf dem Karriol kein Wort gesprochen. Dann platzte es bei Papa Alex heraus: «Abgeblitzt.»

Alex und Ferdi sahen sich vielsagend an, sagten aber keinen Ton. Sie hatten Erfahrung. Wenn dicke Luft herrschte, schwieg man am besten. In Salgesch angekommen, gingen alle sofort ihren Arbeiten nach. Ferdinand kümmerte sich um Lisa. Alex brachte der Köchin das nötige Holz und den leeren Essenskorb. Auch beim Nachtessen herrschte knappste Beredsamkeit. Alle, die Familie und das Personal, merkten, ohne dass darüber ein Wort verloren worden wäre: Bei Alex Werra lagen Sorgen auf dem Tisch.

Nach dem Nachtgebet sassen Alex und Ferdi auf dem Bettrand und rekapitulierten den verflossenen Tag. Vor allem kam der Unterschied zwischen dem vorbildlich geführten Majorshof und dem Anwesen im Tal zur Sprache. Ebenso der Unterschied, wie die Familie in Leuk lebte und ihre in Salgesch.

Die beiden Buben beschlossen, die Lage nicht aus den Augen zu lassen und in den nächsten Tagen eine günstige Gelegenheit abzupassen, um mit dem Vater ein planerisches Gespräch zu führen. Mehr war für heute nicht mehr drin. Bei- de krochen in ihre Betten, löschten die Kerzen aus und legten sich schlafen.

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